Ausstel­lungsführer
Francis Alÿs

Ausstel­lungsführer
Francis Alÿs. As Long as I’m Walking

Einführung

Francis Alÿs (*1959 in Antwerpen) wendet sich nach seinem Architekturstudium der bildenden Kunst zu, als er sich in Mexiko-Stadt aufhält, wo er sich 1986 niederlässt. Auf seinen zahlreichen Spaziergängen durch die Metropole beobachtet und doku­mentiert er das tägliche Leben in der und um die Hauptstadt mittels performa­tiver Aktionen. Die Stadt wird zu seinem Material, und der Körper in Bewegung so­ wie die Spielregeln, die er sich selbst auferlegt, werden zu seinen Instrumenten, während der Film die Spur seiner Aktio­nen festhält. Im Lauf der Jahre dehnt Alÿs seine Streifzüge auf andere urbane Räume – von Havanna über Venedig und Jerusalem bis nach London – aus, indem er jeden dieser Orte durch seine Routen für sich neu erfindet. In seinem gesam­ten Werk hinterfragt er die Verknüpfung zwischen künstlerischem Schaffen und politischer Intervention, arbeitet jedoch stets mit Anspielungen sowie mit be­merkenswerter Präzision und Effektivität, indem er die poetische Vieldeutigkeit dem frontalen politischen Kommentar vorzieht.

Die Ausstellung As Long as I’m Walking bietet einen Überblick über die Videoarbei­ten der letzten dreissig Jahre. Dabei steht ein zentrales Thema des Künstlers, das Gehen, im Mittelpunkt. Durch seine scheinbar harmlosen Streifzüge erdenkt sich Alÿs nicht nur die Stadt, sondern er erzählt auch Geschichten, verbreitet Gerüchte und kartografiert das soziale Gefüge durch mehr oder weniger lange Aktionen, indem er bestimmte Gegenstände zieht, schiebt oder trägt, die als Hinweis dienen, um die durch den Körper in Bewegung erzählte Geschichte zu verstehen.

Während Alÿs in den meisten seiner frühen Videos als Protagonist auftritt, steht er in einer 1999 begonnenen Werkserie, den Children’s Games («Kinderspiele»), hinter der Kamera. In diesen in verschiedenen Ländern gedrehten Videos treffen die ima­ginären Räume der Kindheit auf die fikti­ven Räume des Künstlers und bieten ihm einen Einstiegsort, um sich unbekannten Situationen oder Kontexten zuzuwenden. So beobachtet Alÿs während seiner ers­ten Reise nach Kabul im Jahr 2010 spielen­ de Kinder und filmt eines ihrer Lieblings­ spiele, das ihn zu Reel-Unreel (2011) inspiriert, einem der zentralen Werke, die aus seinen Recherchen in Afghanistan hervorgehen und die in Lausanne zusam­men mit Gemälden und Arbeiten auf Papier gezeigt werden. In diesem Projekt wie in seinen urbanen Streifzügen enthüllt der Künstler das zutiefst subversive Potenzial des Spiels und der Fiktion und ermöglicht uns, die Realität wenn nicht neu zu ge­ stalten, so doch anders zu denken.

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1. Etage

Raum 1
Children’s Games

Seit 1999 filmt Alÿs Kinderspiele, die er auf seinen Reisen in Städten, Dörfern oder in Kriegsgebieten beobachtet. Diese Video­reihe, die er bis heute fortführt, hat er unter dem Titel Children’s Games zusam­mengefasst. Auch wenn die Spiele, die er filmt, gewisse Sitten, Bräuche und Ritu­ale einer bestimmten Region spiegeln, überrascht die ganze Serie durch die Uni­versalität der Gesten und Regeln, die sich von einem Land zum anderen wiederholen: Reise nach Jerusalem, Drachen steigen lassen,  Murmeln, Sandburgen, Schnick–Schnack–Schnuck… In dieser Serie zeigt Alÿs das Spiel als ungemein poetische und unproduktive Tätigkeit, die sich am Rand entfaltet und es den Prot­agonisten erlaubt, Geschichten zu erfin­den, Verbindungen zu knüpfen und mit dem Raum zu experimentieren.

Die beiden in diesem Raum präsentierten Kinderspiel-Videos wurden 2011 in Afghanistan gedreht, als der Künstler auf Einladung der dOCUMENTA (13) – einer alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst –, Reisen in dieses Land unternahm. In Children’s Game #10 (Papalote) hält ein Junge die fast unsichtbare Schnur eines Drachens in den Händen, den er mit lebhaften, präzisen Gesten bewegt. Das Spiel besitzt aufgrund des Kontexts, in dem es ausgeübt wird, einen subversiven Wert, weil die Taliban das Steigenlassen von Drachen verboten haben. Die Welt der Kindheit und jene der Gewalt treffen auf einander, als der Junge sein Spiel unter­bricht, da er das Geräusch eines Militär­ hubschraubers hört: An die Stelle der Silhouette seines Drachens tritt jene des Kriegsgeräts.

In Children’s Game #11 (Wolf and Lamb) versucht eine Gruppe von Jungen, einen ersten Spieler, das «Lamm», vor einem zweiten Spieler, dem «Wolf», zu schützen, indem sie diesen daran hindern, in den Kreis einzudringen, den sie bilden, indem sie sich an den Händen halten, um der Beute Schutz zu bieten. Zwischen Provokationen und Drohungen, Gruppendynamik und List in­szeniert dieses Spiel die in der Gesell­schaft allgemein vorherrschenden Codes der Ein- und Ausgrenzung, wobei sich das Kinderspiel als kleine Allegorie der Er­wachsenenwelt zu erkennen gibt.

1. Children’s Game #10 (Papalote), 2011

2. Children’s Game #11 (Wolf and Lamb), 2011

Raum 2
Afghanistan Projekt, 2010–2014

Zwischen 2010 und 2014 hält sich Francis Alÿs mehrmals in Afghanistan auf, so auch 2013 als eingebetteter «Kriegskünst­ler» in der Task Force der britischen Armee in der Provinz Helmand. In diesem Zusammenhang ist das Zeichnen für ihn nicht nur eine Möglichkeit, zu den Soldaten, mit denen er zusammen ist und die sich für seine Tätigkeit interessieren, in Beziehung zu treten, sondern auch seine Erfahrungen­ des Orts und des Krieges zu verarbeiten. Die Zeichnungen, die er anfertigt, sind Kommunikationsmittel, Notizen, Beobachtungen, eine katharti­sche Strategie und Vorskizzen für künftige Gemälde zugleich. Er stellt Collagen und abstrakte Formen zusammen, als wären es aufeinanderfolgende Schichten, um Eindrücke zu schildern, die sich in einem Kriegskontext der Darstellung entziehen.

In dieser Zeit entstehen auch nach der Rückkehr in sein Atelier Gemälde mit farbi­gen Quadraten und Rauten, die an die Erkennungsabzeichen der Soldaten erin­nern. Bereits 2011–2012 hatte er in einer Serie mit dem Titel Color Bars abstrakte Kompositionen mit einer Abfolge verti­kaler Farbbalken geschaffen, die an die Testbilder des Fernsehens erinnerten, das heisst an jene Bilder, die auf den Bild­ schirmen erschienen, um das Programm­ ende anzuzeigen, bevor die analoge Tech­nik von der digitalen abgelöst wurde.

Der Nachrichtenfluss des Mediums wurde in der Nacht unterbrochen, um den Zuschauer*innen eine kurze Pause ohne Kriegsbilder zu gönnen. Auch wenn all diese Gemälde täuschend echt an geome­trische Abstraktionen erinnern, sind sie doch auch eine Art, über eine Realität zu berichten, die sich der Darstellung entzieht.

In der Mitte des Raums zeigt Sometimes Doing Is Undoing and Sometimes Undoing Is Doing (2013) auf zwei Rücken an Rücken hängenden Monitoren Auf­nahmen von zwei einzeln gefilmten Män­nern, die ihre Waffe auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Diese Tätigkeit wird zum einen von einem nach Afghanistan entsandten britischen Sol­daten und zum anderen von einem Taliban-Kämpfer ausgeübt. Obwohl beide die gleichen Gesten vollziehen, sind ihre Motivationen und der Kontext, in dem sie gefilmt wurden, gegensätzlich. Das Werk verdeutlicht, wie sehr dieses Paradox Teil der konträren Bewegungen ist, die Kriegen zugrunde liegen, wie die Aktionen des Zusammensetzens und Auseinan­ dernehmens, von Aufbau und Abbau, Be­drohen und Davonlaufen, Zerstörung und Wiederaufbau.

3. Afghanistan Projekt, 2010 – 2014 (Zeichnungen und Gemälde)

4. Sometimes Doing Is Undoing and Sometimes Undoing Is Doing (AK47 – Sa80), 2013

Raum 3
Reel-Unreel

Auf seiner ersten Afghanistanreise sieht Alÿs Kindern beim Spielen zu und beob­achtet das beliebteste lokale Spiel, das da­rin besteht, Veloreifen mit Hilfe eines Stocks zum Rollen zu bringen. Das 2010 in Bamiyan gedrehte Video Children’s Game #7 (Hoop and Stick) zeigt, wie sich Jungen diesem Spiel widmen und dann ihre Leistungen vergleichen. Einige Details – die Kleidung der Spieler, die Lehm­ architektur, einige Hintergrundgeräusche – situieren die Szene, während die Einfach­ heit des Spiels, die offensichtliche Freude der Kinder, ihre grenzenlose Hingabe an diese ebenso grundlegende wie freie Tätigkeit mit dem Bild eines Lands im Kriegszustand kontrastieren.

Dieses Spiel inspiriert eines der zentralen Werke, das aus den Recherchen und der Arbeit des Künstlers in Afghanistan hervorging, den Film Reel-Unreel (2011). Der in Kabul gedrehte Streifen beginnt mit dem gleichen Spiel wie Hoop and Stick und zeigt zwei Jungen, die durch die stau­bigen, steilen Strassen der Hauptstadt laufen. Der eine schiebt eine rote Filmrolle vor sich her, deren Film sich im Rhyth­mus des Laufs abwickelt, der andere spult den Film auf eine leere Rolle auf, die er mit der Hand schiebt. Manchmal macht sich die Rolle selbstständig und kullert den Hang hinunter, bevor der Junge sie in der Kurve einer Gasse wiederfindet. Der von seinem holprigen Weg zerkratzte Film trägt den Staub der Stadt, und die Kamera, die ihm folgt, zeigt, meist auf Kindeshöhe, ein indirektes Porträt von Kabul und seinen Bewohner*innen. Inspi­riert von der Inbrandsteckung Tausender von Filmrollen aus afghanischen Filmarchi­ven durch die Taliban im September 2001, ist Reel-Unreel somit mehr als die Inszenierung eines Spiels. Der Film be­leuchtet das zutiefst subversive Potenzial des Spiels, der Fiktion und in diesem Fall des Kinos, was durch das Wortspiel des Titels – reel/real (Spule/real), unreel/ unreal (abspulen/unreal) – unterstrichen wird. Der Titel bezieht sich auch auf das Bild, das sich der Westen von Afghanistan macht, eine Fiktion, die durch den Bilder­ flut der Medien entsteht.

5. Children’s Game #7 (Hoop and Stick), 2010

6. Reel-Unreel, 2011

Verzeichnis der Werke der 1. Etage

1. Children’s Game #10 (Papalote), 2011 Video, Farbe, mit Ton, 4’13” Balkh, Afghanistan
In Zusammenarbeit mit Julien Devaux und Félix Blume

2. Children’s Game #11 (Wolf and Lamb), 2011 Video, Farbe, mit Ton, 3’01” Yamgun, Afghanistan
In Zusammenarbeit mit Julien Devaux und Félix Blume

3. Afghanistan Projekt, 2010–2014
Auswahl von Gemälden und Zeichnungen Mischtechniken, unterschiedliche Abmessungen
Courtesy Ihrer Majestät die Königin

4. Sometimes Doing Is Undoing and Sometimes Undoing Is Doing (AK47 Sa80), 2013
2-Kanal-Video, Farbe, mit Ton, 5’42” FOB Shawqat, Provinz Helmand und Provinz Herat, Afghanistan
In Zusammenarbeit mit Ajmal Maiwandi und den in Afghanistan stationierten britischen Streitkräften

5. Children’s Game #7 (Hoop and Stick), 2010 Video, Farbe, mit Ton, 5’22” Bamiyan, Afghanistan
In Zusammenarbeit mit Natalia Almada

6. Reel-Unreel, 2011
Video, Farbe, mit Ton, 19’32” Kabul, Afghanistan
In Zusammenarbeit mit Julien Devaux und Ajmal Maiwandi

Falls nicht anders angegeben, sind alle Werke courtesy des Künstlers undder Galerien Peter Kilchmann (Zürich) und David Zwirner (New York, London, Paris, Hongkong)

2. Etage

As Long as I’m Walking

Auf dieser Etage wird die Ausstellung durch ein Wandtext eröffnet, das aus Sät­zen besteht, die Francis Alÿs im Laufe der Jahre geschrieben hat und das der Lausanner Schau ihren Titel gibt: As Long as I’m Walking (1992). In der Tat ist Alÿs seit mehr als dreissig Jahren zu Fuss unter­ wegs. Seine Begehungen begannen in Mexiko-Stadt, seiner Wahlheimat seit 1986. In dieser Stadt filmte er die meisten seiner Streifzüge, bevor er sie auf andere städtische Räume ausdehnte.

In einer seiner ersten Arbeiten, The Collector (1990–1992), läuft Alÿs durch Mexiko-Stadt und zieht an einer Leine einen Magneten auf Rädern, der nach und nach alle Metallrückstände auf seinem Weg anzieht. Hier arbeitet der Künstler wie ein Archäologe oder ein Detektiv, der Indizien sammelt. An anderer Stelle ist zu sehen, wie die einfache Tatsache, sich ohne offensichtliches Ziel im urbanen Raum zu bewegen, die sich dort abspielende soziale Dynamik unmerklich verändert. Wenn Alÿs auf einem Platz steht und in die Höhe blickt, als ob er etwas beobachtet, und dadurch eine wachsende Menschen­ menge anzieht, die mit ihm die Leere absucht, bevor sich der Künstler aus dem Staub macht (Looking Up, 2001), schafft er ein Ereignis aus fast nichts. Das Gegen­teil unternahm er in einer seiner emble­matischsten Aktionen, Paradox of Praxis 1 (1997), die ebenfalls im Zentrum von Mexiko-Stadt stattfand, einer Allegorie des Missverhältnisses zwischen Aufwand und Ertrag: Mehr als neun Stunden lang schob Alÿs einen grossen rechteckigen Eisblock vor sich her, bis fast nichts mehr von ihm übrigblieb.

In anderen Werken hinterfragt Alÿs explizi­ter die Beziehung zwischen künstleri­schem Akt und politischer Intervention. In The Green Line (2004) zum Beispiel geht der Künstler mit einem Topf grüner Farbe in der Hand der Grenze entlang, die im Waffenstillstand von 1949 zwischen Israel und den arabischen Staaten fest­ gelegt wurde, eine «grüne Linie», die sich seit dem Sechstagekrieg von 1967 und der Besetzung der palästinensischen Ge­biete weiter nach Osten verschob. So reaktiviert Alÿs die ursprüngliche Grenze, auf die er mit seinem Gang hinweist, und hinterlässt dabei einen unregelmässi­gen Fluss grüner Farbe auf dem Boden, eine schwache, doch für die Dauer der Aktion sehr reale Spur.

Verzeichnis und Beschreibungen der Werke der 2. Etage

1. As Long as I’m Walking, 1992
Wandtext
Diese Liste, die Francis Alÿs über mehrere Jahre hinweg zusammenstellte, enthält alles, was der Künstler nicht tut, wenn er geht: weinen, fliegen, rauchen oder malen. Sie macht das Gehen zu einer poe­tischen Disziplin und einem Akt des Wi­derstands, denn jeder urbane Streifzug ist eine Zeitklammer, die den sozialen und wirtschaftlichen Zwängen der Produktivi­tät entzogen ist.

2. Patriotic Tales (Cuentos Patrióticos), 1997
Video, Farbe, mit Ton, 25’36”
Dokumentation einer Aktion, Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega
Im Zusammenhang mit den Studenten­ protesten von 1968 in Mexiko- Stadt, bei denen Tausende von Beamten in einer spontanen Protestaktion zu blöken began­nen, stellt sich Francis Alÿs eine Action-Fiction vor, in der er Schafe um den sym­bolträchtigen Mast auf dem Zócalo drehen lässt. In diesem perfekt choreografierten Reigen wird der Anführer schliesslich zum Mitläufer.

3. Ambulantes, 1992–2010
Projektion von 35-mm-Dias Mexiko-Stadt, Mexiko
Ambulantes ist eine Sammlung von Foto­grafien, deren Zahl im Laufe der Jahre zunahm und welche die informelle Nutzung des öffentlichen Raums als alternativen Geschäftsort dokumentiert. So sieht man Kaufleute oder Boten, die ihre Waren durch die Stadt tragen, schieben und trans­portieren, deren Strassen sich so den üblichen räumlichen oder wirtschaftlichen Regelungen entziehen.

4. Perro Durmiendo, 1999–2006
Video, Farbe, mit Ton, 7’15”
Mexiko-Stadt, Mexiko
Francis Alÿs fängt auf Bodenhöhe das Bild streunender Hunde ein, die im öffent­lichen Raum schlafen. Nach Ansicht des Künstlers handelt es sich dabei um Figuren des Widerstands gegen die urbane Entwicklung, da die Zähmung von Tieren oder der Ausschluss von Wild­ tieren aus den Stadtzentren historische Marker der Moderne sind.

5. Paradox of Praxis 1 (Sometimes Making Something Leads to Nothing), 1997
Video, Farbe, mit Ton, 9’54”
Dokumentation einer Aktion, Mexiko-Stadt, Mexiko
Mehr als neun Stunden lang schiebt Francis Alÿs einen Eisblock durch die Strassen von Mexiko-Stadt, bis von ihm nur noch eine Wasserlache übrigbleibt. Diese Aktion hinterfragt das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag, das den lateinamerikanischen Alltag kennzeichnet: Auch wenn der Aufwand gross ist, erweist sich der Ertrag als lächerlich.

6. The Collector (Colector), 1990–1992
Video, Farbe, mit Ton, 8’56”
Dokumentation einer Aktion, Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Julien Devaux und Octavio Iturbe
Francis Alÿs geht durch die Strassen von Mexiko-Stadt und zieht dabei ein ma­gnetisches Spielzeug auf Rädern hinter sich her. Dieser «Magnethund» sammelt die Metallrückstände ein, welche die Strasse verschmutzen, und schmückt sich so mit Abfällen, die von Geschichten und Fragmenten des städtischen Lebens zeugen.

7. Looking Up, 2001
Video, Farbe, mit Ton, 3’33”
Dokumentation einer Aktion, Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega
Francis Alÿs steht regungslos auf einem Platz in Mexiko-Stadt und blickt in die Höhe, wobei er sich auf die Kraft der Sug­gestion und den Nachahmungstrieb der Passant*innen verlässt, von denen einige ihn schliesslich nachahmen. Dann macht sich der Künstler diskret aus dem Staub und hinterlässt eine Ansammlung von Menschen, die in den Himmel starren, ein Event, der aus fast nichts entstanden ist.

8. Duett, 1999
Video, Farbe, mit Ton, 10’55”
Dokumentation einer Aktion, Venedig, Italien
In Zusammenarbeit mit Honoré d’O
Francis Alÿs und der belgische Künstler Honoré d’O kommen einzeln in Venedig an und gehen ziellos durch das Strassen­ labyrinth der Stadt, wobei jeder die Hälfte einer Helikontuba trägt. Nach dreitägi­gem Herumlaufen treffen sie sich schliess­lich am Ende eines vom Zufall bestimm­ten Parcours.

9. Children’s Game #1 (Caracoles), 1999
Video, Farbe, mit Ton, 4’34”
Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Frédéric de Smedt, Constantin Felker und Julien Devaux
Gedreht in Mexiko-Stadt, ist Caracoles das erste Video der sich ständig weiterent­ wickelnden Serie Children’s Games. Darin filmt der Künstler einen einsamen Jungen in einer steilen Gasse von Mexiko-Stadt, der mit dem Fuss auf eine halb­ leere Plastikflasche tritt.

10. Magnetic Shoes (Zapatos Magnéticos), 1994
Video, Farbe, mit Ton, 4’24 »
Dokumentation einer Aktion, Havanna, Kuba
Francis Alÿs wandert jeden Tag durch die Strassen von Havanna und trägt dabei magnetische Schuhe, auf denen die Metall­ rückstände, mit denen der Asphalt über­sät ist, hängen bleiben. Auf seinen täglichen Streifzügen sammelt er den Müll der Stadt, der von den besuchten Orten zeugt, und bringt ihn in Umlauf.

11. Re-enactments, 2000
2-Kanal-Video, Farbe, mit Ton, 5’23”
Dokumentation einer Aktion, Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega
Nach dem Erwerb einer Pistole in einem Geschäft in Mexiko-Stadt läuft Francis Alÿs am helllichten Tag mit der Waffe durch die Strassen und wird erst nach geraumer Zeit von der Polizei verhaftet, deren Trägheit dieses Video aufdeckt. Auf den beiden Monitoren sind zwei Fassungen derselben Szene zu sehen: zum einen die Dokumentation der Aktion, zum anderen deren Rekonstruktion.

12. Railings, 2004
Video, Farbe, mit Ton (Park Crescent, 2’25”, Sample 1, 1’35”, Onslow Gardens, 1’21 »), Ed. 3/4
Dokumentation einer Aktion, London, Grossbritannien
In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega und Artangel
Musée cantonal des Beaux-Arts Lausanne. Erwerbung, 2014
Francis Alÿs geht durch London und zieht einen Schlagzeugstock über die Gitter, um einen ortsspezifischen urbanen Klang zu erzeugen. Diese Partitur legt sich über die Geräusche der Umgebung – Hund­ gebell, heulende Sirene, Autolärm –, um daraus Musik zu machen.

13. Retoque/Painting, 2008 Video, Farbe, mit Ton, 8’31”
Dokumentation einer Aktion, Paraíso, Panamá
In Zusammenarbeit mit Raúl Ortega und Magali Arriola
Francis Alÿs erneuert die Farbe der Mittel­ streifen der Strasse am Panamakanal, der seit 1914 den Pazifik mit dem Atlantik verbindet. Die Aktion des Künstlers unter­streicht die Schwierigkeit, die Komple­xität der historischen Probleme eines bestimmten Orts durch Kunst darzustellen und zu vermitteln.

14. The Green Line (Sometimes Doing Something Poetic Can Become Political, and Sometimes Doing Something Political Can Become Poetic), 2004
Video, Farbe, mit Ton, 17’41”
Dokumentation einer Aktion, Jerusalem, Israel
In Zusammenarbeit mit Philippe Bellaiche, Rachel Leah Jones und Julien Devaux
Mit einem mit grüner Farbe gefüllten durchlöcherten Topf in der Hand geht Francis Alÿs in Jerusalem den Teil der «grünen Linie» entlang, der die Stadt teilt. Auf dem Boden zeichnet er symbolisch die Grenze nach, die im Waffenstillstand von 1949 zwischen Israel und den arabi­schen Staaten festgelegt wurde und sich 1967 nach dem Sechstagekrieg ver­schob, was zur Besetzung der palästinen­sischen Gebiete östlich der Demarkations­linie führte.

15. Albert’s Way, 2014
Video, Farbe, mit Ton, 3’48”
Dokumentation einer Aktion, Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Félix Blume und Julien Devaux
Sieben Tage lang legt Francis Alÿs von 9 Uhr morgens bis 19 Uhr abends in seinem Atelier eine Strecke von 118 km zurück, die jener der Pilger auf dem engli­schen Jakobsweg nach Santiago de Compostela entspricht. Diese Aktion be­zieht sich auf eine Anekdote, laut der Albert Speer, der Architekt des Dritten Reiches, während seiner Gefängniszeit eine Welt­ umrundung in seiner Zelle unternommen haben soll.

16. Paradox of Praxis 5 (Sometimes We Dream as We Live and Sometimes We Live as We Dream), 2013
Video, Farbe, mit Ton, 7’49”
Dokumentation einer Aktion, Ciudad Juárez, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega, Julien Devaux, Alejandro Morales und Félix Blume
Nachts in Ciudad Juárez – einer Grenzstadt zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, die für ihre endemische Gewalt berüchtigt ist – läuft Francis Alÿs durch die verwüsteten Strassen und kickt einen brennenden Ball vor sich her. Das Feuer erhellt kurz die Umgebung und entwirft all­ mählich die Kartografie einer Geisterstadt.

17. Semáforos, 1995 – heute
Video, Farbe, mit Ton, 9’57”
Aus aller Welt
Semáforos ist eine Sammlung von Bildern, die Francis Alÿs auf seinen Reisen auf­ nahm, und entwirft eine globale urbane Geografie, deren gemeinsamer Nenner die Silhouette des Fussgängers der Verkehrs­ ampeln ist, des Symbols des Stadt­ wanderers.

18. Prohibited Steps, 2020
Video, Farbe, mit Ton, 3’22”
Dokumentation einer Aktion, Insel Lamma, Hongkong
Mit verbundenen Augen und zögernden Schritten bewegt sich Francis Alÿs auf dem Flachdach eines Bungalows. Das Video wurde im Oktober 2020 am elften Tag der dem Künstler in Hongkong aufer­legten Quarantäne gedreht und doku­mentiert die räumliche Enge und die damit verbundene Einsamkeit in Zeiten der Pandemie. In erweitertem Sinn bezieht sie sich auf das Problem der Freiheitsräume.

Die Sammlung

Choques, 2005
9-Kanal-Video-Installation, Farbe, mit Ton
(Camera Lateral, 1’50”; Frontal Semi Close, 1’44”; Diagonal Piso, 2’53”; Frontal, 1’47”; Diagonal Ventana, 1’35”; CCTV, 3’39”; Frontal Piso, 0’27”; Lateral+Back, 3’08”; POV Perro, 3’01”), Ed. von 4 Ex., E. A. 1/2
Mexiko-Stadt, MexikoCollection du Fonds d’art contemporain de la Ville de Genève

Mit Choques, einem Video, das neun in den Räumen verteilte Monitore bespielt, hält die Werkschau Einzug in die Dauer­ ausstellung des Musée cantonal des Beaux-Arts. Die neun Kanäle zeigen alle dieselbe Szene aus leicht unterschiedli­ chen Blickwinkeln. Der Künstler stolpert an einer Strassenecke in Mexiko-Stadt über einen streunenden Hund. Die neun erhöht angebrachten Monitore sind so verteilt, dass die Besucher*innen beim Rundgang jeweils nur eine Szene sehen können. Choques spielt folglich mit dem Gefühl des «Déjà-vu», der Wiederholung ein und desselben Ereignisses in aufeinander­ folgenden Räumen und erinnert sowohl durch seine Konstruktion als auch durch die Art seiner Präsentation an die Art und Weise, wie Überwachungs­ kameras jede unserer Bewegungen im öffentlichen Raum aufzeichnen.