Ausstellungsführer
Lubaina Himid
So Many Dreams
Einführung
Lubaina Himid (*1954, Sansibar) ist eine einflussreiche Figur der zeitgenössischen Kunst. Von ihrer zentralen Rolle in der Bewegung der British Black Arts in den 1980er Jahren bis zu ihrer Auszeichnung mit dem renommierten Turner Prize 2017 hat sie unablässig die Möglichkeiten der Malerei erkundet und die Narrative, die diese vermittelt, hinterfragt, um die Aufmerksamkeit auf unsichtbare Aspekte der Geschichte wie auf aussergewöhnliche Momente des Alltags zu lenken. Seit über vierzig Jahren ist sie als Künstlerin tätig und leistete zudem Pionierarbeit als Ausstellungskuratorin, indem sie sich insbesondere für Kunstschaffende aus der afrikanischen Diaspora einsetzte. Lubaina Himid, die zuerst am Wimbledon College of Art Theaterdesign studierte und dann ihre Ausbildung am Royal College of Art in London fortsetzte, hat ein kraftvolles und einzigartiges Werk entwickelt, das seine Anregungen aus ihrem Interesse an Theater und Oper, der Geschichte der westlichen Malerei und Textilmustern aus der ganzen Welt, aber auch aus ihrer Erforschung der Kolonialgeschichte und deren heutiger Auswirkungen schöpft.
Die Ausstellung Lubaina Himid. So Many Dreams, welche farbenprächtige Gemälde, monumentale Installationen und Klang Environments umfasst, ist eine einzigartige Gelegenheit, die Bandbreite und den Reichtum der Arbeit der Künstlerin zu entdecken. Der Rundgang folgt Erzählsträngen, die Orten und ihren Geschichten befragen sowie zugleich das historische Gedächtnis und sein Wiedererstehen in der Gegenwart, aber auch die Übermittlung bestimmter Narrative durch Farbe, Motive und Klang behandeln. Die Erzählung ist nie frontal oder linear ausgerichtet, da die Künstlerin in ihren Bildern Räume schafft, die dazu einladen, den Platz, den jede der dargestellten Personen einnimmt, und jenen, den wir ein- nehmen, zu hinterfragen. So werden die Ausstellungsräume zur Bühne eines Theaterstücks, in dem die Besuchenden Teil der Handlung sind.
Gemäldezyklen, darunter Revenge (1991– 1992), Plan B (1999) und Le Rodeur (2016–2018), sind hier zum ersten Mal vereint und treten in Dialog mit Werken aus allen Schaffensperioden, von der berühmten Installation A Fashionable Marriage (1984) bis zu den jüngsten Klang-installationen wie Old Boat/New Money (2019) und Blue Grid Test (2020). «Wozu dienen Denkmäler?»; «Welchen Klang erzeugt die Liebe?»; «Wie unterscheidet man zwischen Sicherheit und Gefahr?» Durch ihr strahlendes, kraftvolles Werk und die Fragen, die es aufwirft, bietet uns Lubaina Himid Kondensate der Geschichte, die durch das Prisma der Vorstellungskraft neu gedeutet werden.
1. Etage Raum 1
«Wir leben in Kleidern, in Gebäuden – entsprechen sie unserer Grösse?»
Zum Auftakt ihrer Ausstellung empfängt Lubaina Himid die Besuchenden mit grossen Fahnen, die von Kangas, vielseitig verwendbaren ostafrikanischen Textilien, inspiriert sind. Nach diesem bewegten, poetischen Empfang geleitet uns die Künstlerin in den ersten Raum, dessen Werke verschiedene Aspekte unserer Beziehung zur bebauten Umwelt behandeln, ob es nun um jenen geht, den wir im Heute bewohnen, um jenen, der sich uns durch Baudenkmäler in
Erinnerung ruft, oder um jenen, den man sich anders vorzustellen hat.
Eine Reihe neuerer Gemälde, Metal Handkerchief (2019), entfaltet sich auf einer gebogenen Wand und verweist auf die Sprache der Gesundheits und Sicherheitsvor schriften, in denen festgelegt ist, wie Gebäude zu errichten und zu nutzen sind.
In Entsprechung zu dieser Installation greift das Klangstück Reduce the Time Spent Holding (2019) von Magda Stawarska-Beavan die auf diesen Bildern stehenden Worte auf, die von Lubaina Himid geflüstert werden, wobei die Intimität ihrer Stimme auf ein unpersönliches Gemisch aus Baugeräuschen trifft.
Indem Lubaina Himid bestimmte Normen und Vorschriften in Frage stellt, erinnert sie an die Notwendigkeit, unsere eigenen Lebensräume gestalten und verändern zu können. Sie fordert uns auf, über die Arten von Orten nachzudenken, die unsere Kreativität beflügeln könnten, und welche Werkzeuge und Materialien wir benötigen, um etwas frei zu erfinden und zu gestalten.
Die Künstlerin fragt sich: «In welcher Art von Gebäuden würden Frauen gerne leben und arbeiten? Wurde uns diese Frage jemals gestellt?» Ihre Träume von anderen Bau- formen – geschwungen, umhüllend, mit weitläufigen, hellen Räumen, geöffnet
auf Innenhöfe, doch auch ausgerichtet auf die blauen Weiten des Ozeans – tauchen in den Gemälden der späten 1990er-Jahre wieder auf, von denen hier Country House und East Wing West Wing zu sehen sind.
In Three Architects (2019) finden sich diese Traumbauten in Form kleiner Modelle unter dem aufmerksamen Blick von drei Architekt:innen in einem Raum wieder, in dem Innen und Aussen miteinander verknüpft sind durch eine violette Fläche, die sich auf dem Boden ausbreitet und zugleich an einen Teppich, eine Landkarte oder das Meer erinnert. Am Horizont, jenseits der Fenster, wogt ein unruhiger, grauer Ozean, ein in der Arbeit der Künstlerin häufig wie- derkehrendes Element, das sich auf das Unbekannte und Mögliche öffnet, doch auch auf traumatische Geschichten von unfreiwilligen Überfahrten, aufgenötigten Passagen und erzwungenen Migrationen verweist.
Auf diese Geschichten wird auch in der Installation Jelly Mould Pavilions for Liverpool (2010) angespielt. Das Werk ging aus einem fiktiven Architekturwettbewerb hervor, den die Künstlerin veranstaltete, um an den Beitrag der afrikanischen Diaspora zum Reichtum und zur Kultur Liverpools zu erinnern.
1. Etage Raum 2
«Wie lassen sich Sicherheit und Gefahr unterscheiden?»
In diesem Raum sind eine Reihe von Gemälden und Arbeiten auf Papier zu sehen, die sich auf fast abstrakte Weise mit dem Meeresthema beschäftigen. Ihre geometrischen Muster spielen auf das Wasser an oder stellen verschiedene Textilmotive und Seestücke nebeneinander. Tatsächlich ist das Meer in Lubaina Himids Bildern fast immer präsent, und Meeresmotive stehen im Mittelpunkt ihres Schaffens. So sagt sie zum Beispiel: «Die Motive dienen meist dazu, das Meer oder die Erinnerung daran darzustellen. Gelegentlich fungieren sie als Ortsanzeiger. In anderen Fällen sind sie die kleine Hintergrundmusik der Erzählung, das versteckte Szenario, das Unausgesprochene.» Ende der 1990er-Jahre produzierte Lubaina Himid während einer zweimonatigen Residenz in der Tate St Ives in Cornwall die Serie Plan B, die mehr als 70 Arbeiten auf Papier mit Kohle, Pastell, Collage und Malerei umfasst. Von einer in ein Atelier umgewandelten Rettungskabine aus verbringt die Künstlerin ihre Tage damit, das Element des Meers und die wechselnden Farben des Wassers und des Himmels zu beobachten, um ihre Empfindungen und Erinnerungen festzuhalten und wiederzugeben. Durch enge Bildaus- schnitte, bei denen das Meer manchmal nur durch kleine Öffnungen zu sehen ist, betont die Künstlerin eine Form von Einsamkeit und Innerlichkeit, die im Gegensatz zu den üblichen Seestücken steht. Lubaina Himid schildert die Ambiguität des Strands, der sowohl ein Vergnügungsort ist, aber auch ein traumatischer Durchgangsort für die versklavten Afrikaner:innen, die im 18. und 19. Jahrhundert gegen ihren Willen über den Atlantik verschleppt wurden, war.
«Welche Bedeutung kann man einem Ort wie dem Ozean geben, wenn man ihn zum ersten Mal sieht? Wie soll man ihn malen?», fragt sie. Einige Werke der Serie enthalten Text, fiktive Erzählungen von Exil und Flucht. Die Aussagen verdoppeln sich visuell und variieren wie musikalische Refrains.
In diesem Raum und im zweiten Obergeschoss hat die Künstlerin Holzkarren aufgestellt, in die sie verschiedene Tiere malte. Die Karren verweisen auf die Ursprünge des europäischen Theaters, als die Aufführungen noch im Freien stattfanden, auf Karren, die von Stadt zu Stadt gezogen wurden. Zugleich erinnern sie an Zwangstransporte. Einige Bilder zeigen gefährlich aussehende Geschöpfe wie Taranteln und Quallen, die in allegorischer Weise auf die Erfahrung von Flüchtenden und Migrant:innen antworten und deren «Andersartigkeit» verunglimpfen. Mit diesem Werk lenkt die Künstlerin unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, oft als «Anders» verachtet werden, und fordert uns auf, über unsere Rolle angesichts dieser Entwurzelungen nachzudenken und uns zu fragen: «Was würden wir tun, wenn uns so etwas zustiesse?»
1.Etage Raum 3
«Welcher Klang erzeugt die Liebe?»
Seit den 1980er-Jahren schafft Lubaina Himid Werke, in die sie Klang einbezieht, um die Theatralik zu betonen. Seit einigen Jahren arbeitet sie für ihre Klanginstalla- tionen eng mit der Künstlerin Magda Stawarska-Beavan zusammen. Im Jahr 2020 dazu eingeladen, ein Werk für eine Aus- stellung im WIELS – Centre d’art contemporain in Brüssel anzufertigen, plant sie ein Bild zu malen, dessen Motive sich wie eine Horizontlinie um den Ausstellungsraum winden. Die mit Magda Stawarska-Beavan realisierte Installation Blue Grid Test versteht sich als Reflexion über die Frage des musikalischen wie visuellen Rhythmus. So besteht das Werk aus 64 blauen Motiven aus der ganzen Welt, die eine dünne, kontinuierliche Linie bilden und Fundstücke überlagern, die mit einem Klangenvironment verbunden sind.
Für das letztere suchten die Künstlerinnen einen musikalischen Dialog zu schaffen, dessen Motive an die Farbe Blau erinnern. Sie einigten sich auf den Song Blue von Joni Mitchell und studierten dessen Struk- tur, Partitur, Taktzahl usw., um schliesslich bestimmte Motive herauszuarbeiten und zu kodifizieren. Lubaina Himid verfasste dazu einen Prosatext mit kurzen poetischen Einschüben rund um die Farbe Blau in all ihren Schattierungen von Kobalt über Indigo bis hin zu Ultramarin oder Hellblau. So vernimmt man die Stimme der Künstlerin, die sämtliche Sätze in drei Sprachen (Englisch, Flämisch, Französisch) spricht, dort wo man im Originalsong Joni Mitchells Stimme hören würde.
In einem im Ausstellungskatalog abgedruckten poetischen Text über ihre Klangzusammenarbeit notiert Lubaina Himid:
Welcher Klang erzeugt die Liebe? Welcher Klang erzeugt das Blau? Welcher Klang erzeugt die Stadt? Welcher Klang erzeugt die Schöpfung? Was ist das Meer und wie viel Wasser enthält es genau?
Was bedeutet eine solche Wassermenge? […]
Lieder haben Rhythmen und Melodien. Motive haben Formen und Farben.
Wir sprechen zueinander; sie sprechen zueinander.
[…]
Zuhören zu lernen ist die wichtigste Lektion, die ich in meinem ganzen Leben erhielt, als ich mit Kunst- schaffenden diskutierte.
Der Welt und der Erzählung, die ich zur Deutung meines Lebens nutze, intelligent, mit Tiefe und Aufmerksamkeit, zuzuhören, ist das Wichtigste, was ich in den letzten fünf Jahren lernte.
2.Etage
«Wie lautet die Strategie?»
Das Wellenrauschen, das die Besuchenden im zweiten Obergeschoss empfängt, gehört zu der monumentalen Installation Old Boat/New Money (2019) und steht im Dialog mit den gegenüber präsentierten Gemälden aus der Serie Revenge (1991–1992).
Die letzteren beziehen sich alle auf Historiengemälde des 19. oder Bilder des 20.Jahrhunderts, verändern aber deren Bedeutung, indem sie andere Personen und Narrative einführen. Lubaina Himid öffnet den Darstellungsraum für die An- wesenheit schwarzer Frauen als Haupt- figuren ihrer Bilder und als eigenständige Individuen. Sie malt sie zu zweit, wie sie miteinander Gespräche führen, planen und gemeinsam handeln, und das in einem Umfeld, in dem sie historisch gesehen weder zu sehen noch zentrale Figuren waren. So sitzen in Between the Two my Heart Is Balanced (1991) zwei Frauen in einem Boot, zwischen ihnen ein Stapel Dokumente, von denen sie blaue Stückchen ins Meer werfen. Die Komposi- tion ist von einem Gemälde von James Tissot (Portsmouth Dockyard, um 1877, Tate Britain, London) inspiriert, das einen britischen Soldaten darstellt, der in einem kleinen Boot sitzt, umgeben von zwei weissen Frauen, die er umwirbt, während im Hintergrund Schiffe zu sehen sind.
Lubaina Himid ersetzt die Figur des Soldaten durch einen Stapel bunter Dokumente, die Karten und Navigationspläne darstellen, Symbole des britischen Empire und seiner kolonialen Expansion. Wie in Tissots Gemälde lädt der enge Bildausschnitt des Boots die
Betrachtenden ein, in die Komposition einzutreten und Position zu beziehen – das heisst hier mit den beiden schwarzen Frauen zu rudern und die Seekarten zu zerstören, um sich eine Vergangenheit vorzustellen, in der es keinen Sklavenhandel gegeben hätte und so die Geschichte neu zu gestalten oder sie im Gegenteil zu bewahren.
In Act One No Maps sitzen zwei schwarze Frauen in der Oper. Die Komposition folgt den impressionistischen Gemälden von Auguste Renoir und Mary Cassatt.
In Five sitzen sie an einem Tisch und unterhalten sich. Vielleicht sprechen sie über die Geschichte des Dreieckshandels, der durch eine gepünktelte weisse Linie angedeutet ist: Wie eine Abfolge von Zucker- körnern verbindet diese die Karte von Afrika mit einer Flagge, die auf den amerikanischen Kontinent anspielt.
Auf einer viel abstrakteren Ebene erinnert die Klanginstallation Old Boat/New Money ebenfalls an den Dreieckshandel. Lubaina Himid hat auf jedes der Holzbretter, die zwei grosse Wellen bilden, kleine Kaurimuscheln gemalt, die den Europäern in Afrika als Tauschwährung für Lebensmittel und Sklaven dienten. Die Bretter selbst sind in Grautönen bemalt, die auf das Meer und den Himmel Grossbritanniens anspielen, während das Rauschen des Meers, das Plätschern der Wellen und das Knarren der Schiffsplanken an all die auf dem Meeresgrund liegenden Toten zu erinnern scheinen.
2. Etage
Inszenierungen
Zwei charakteristische Werke aus der frühen Schaffenszeit Lubaina Himids werden
im Zentrum des zweiten Obergeschosses präsentiert: Freedom and Change (1984) und A Fashionable Marriage (1984–1986). Beide lassen buchstäblich den Bilderrahmen hinter sich, um sich im Raum auszubreiten. Sie erinnern an die Theaterbühne und lassen bereits wichtige Werke der Kunstgeschichte wiederaufleben. Die verwendeten Materialien – Leinwand, Pappe, Sperrholz, Malerfarbe, Collage usw. – sind die glei- chen, die zur Herstellung von Bühnenbildern dienen. Wie die Künstlerin sagt: «Als ausgebildete Theaterdesignerin habe ich mich immer dafür interessiert, in welcher Weise das Bühnenspiel ein Akteur des sozialen Wandels sein kann.» In Freedom and Change laufen zwei Frauen barfuss einen Strand entlang, die Hände zum Zeichen des Siegs in die Luft gestreckt. Von vier Hunden aus Pappe gezogen, schreiten sie vor zwei blutleeren weissen Männerköpfen einher, die in den Sand einzusinken scheinen.
Lubaina Himid entlehnt ihre Komposition Pablo Picassos klassizistischem Gemälde Zwei Frauen laufen am Strand (1921, Musée Picasso, Paris), verändert jedoch dessen Bedeutung: Im Gegensatz zum Original, das die Sinnlichkeit der teilweise entblössten weiblichen Figuren betont, sind die von Lubaina Himid gemalten Frauen dunkel- häutig und tragen Kleider, deren üppige Muster aus wiederverwendeten und zusammen-geklebten Stoffen bestehen. Als Herrinnen ihres Schicksals haben sie den weissen männlichen Blick, der durch die hinter ihnen zurückgelassenen Männer symbolisiert wird, buchstäblich in den Sand getreten und überholt.
Mit der Installation A Fashionable Marriage ahmt Lubaina Himid das Gemälde Marriage A-la-Mode: The Toilette von William Hogarth (um 1743, National Gallery, London) nach. Das Bild zeigt Personen, die sich in Gegenwart zweier schwarzer Diener im Schlafzimmer einer ehebrecherischen Gräfin einem scheinheiligen, lasziven Austausch huldigen. Lubaina Himid behält Hogarths Originalkomposition bei, ersetzt die Personen jedoch durch zeitge- nössische Figuren und die Bilder an der Wand durch Imitate von Picassos Gemälden. Mit dieser Inszenierung prangert sie Rassismus, Sexismus und Vulgarität der britischen Kunstwelt und des politischen Kontexts der 1980er Jahre an. Prominent vertreten sind die damaligen politischen Führungskräfte: Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die ihre ultraliberale
«Liebesgeschichte» schamlos zur Schau stellen. Nur die beiden schwarzen Personen ziehen sich aus der Affäre: In der Mitte dominiert eine Künstlerin in blauem Gewand voller Anmut diese bedauernswerte Szene, und im Vordergrund sitzt ein verträumtes Mädchen, ausgestattet mit Büchern, auf einem Koffer, der mit Etiketten ihrer Reisen beklebt ist. Der Soundtrack, der die Installation begleitet, spielt abwechselnd eine barocke Sinfonia von Georg Friedrich Händel, Die Ankunft der Königin von Saba (1748), und Taarab Musik aus Sansibar.
2. Etage
«Wie geht es weiter?»
In diesem Teil, der die Ausstellung beschliesst, hat Lubaina Himid eine Reihe neuer Werke vereint, die von der grossen Geschichte, aber auch von persönlichen Geschichten erzählen, aus denen die erstere besteht. Während der in ihren Gemälde behandelte Kontext in der Realität verankert ist, sind die Figuren völlig fiktiv, obwohl sich in ihnen viele tatsächliche Lebenserfahrungen spiegeln. Sie bewegen sich in Innenräumen, die Theaterkulissen gleichen, auf Bühnen, die bereit sind für neue Möglichkeiten, neue Identitäten und neue Arten der Interaktion und des Miteinanders. Sechs Schneider sitzen um einen Tisch, schauen sich an oder beobachten, was ausserhalb des Bilds geschieht (Six Tailors, 2019); drei Frauen zeichnen unter einer Lampe Topografien um (The Operating Table, 2019); ein Mann schreitet einher, den Blick auf den Phönix vor ihm gerichtet (Accidental Encounter, 2021); männliche Vollfiguren blicken einander an oder machen sich davon; sie sind maskiert, berühren sich jedoch in Interaktionen zwischen Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremdartigkeit. Alle haben sich herausgeputzt (Remove from the Heat, 2019; Cover the Surface, 2019). Die Künstlerin meint dazu: «Wenn man Männer in Gruppierungen malt, kann man ihre Zärt- lichkeit füreinander zeigen, ohne dass sie verletzlich wirken – weil sie Männer sind.
So sind die Bilder solcher Männergruppen eigentlich Gemälde über die Art und Weise, wie Frauen sein könnten und im wirklichen Leben tatsächlich sind – zärtlich zueinander, doch alles andere als verletzlich; stark und selbstbewusst, frei und lustig. […] Die Szenen sind nicht real, doch die Atmosphäre ist meine Realität.»
In der Bilderserie Le Rodeur (2016–2017) geht Lubaina Himid von einem schrecklichen Ereignis aus, um die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen ihren Hauptfiguren zu erkunden und ihre Individualität zu rekons- truieren. Die Künstlerin verleiht ihnen in der Malerei Macht und Selbstbestimmung, die ihnen im Leben verwehrt bleiben. Sie bewegen sich in stilisierten Umgebungen, die an eine Schiffskabine oder ein Wohnzimmer erinnern, doch stets mit dem Meer im Hintergrund. Der Titel der Serie bezieht sich auf den Namen eines französischen Sklavenschiffs, das 1819 Sklav:innen von Westafrika in die Karibik brachte und dessen Besatzung und fast alle Gefangenen aufgrund einer Seuche erblindeten. Fast vierzig der letzteren wurden auf Befehl des Kapitäns über Bord geworfen. Wie in ihrem übrigen Werk stellt Lubaina Himid diese traumatische Geschichte nicht direkt dar, sondern ruft Geister und Echos herbei, indem sie die Gegenwart mit der Vergan- genheit überlagert. Die Künstlerin formu- liert es so: «Es geht um die Angst vor dem Unbekannten und den alltäglichen Terror. […] Diese Bilder schildern eine auf den Kopf gestellte Welt, in der die Hauptfiguren nach Wegen suchen, um zu existieren.»