Ausstellungsführer
Magdalena Abakanowicz. Textile Territorien
Hommage an Elsi Giauque

Einführung

Die Ausstellung Textile Territorien zeigt die Anfänge der internationalen Karriere von Magdalena Abakanowicz (1930–2017), einer bedeutenden Vertreterin der Textilkunst und Plastik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als eine der Hauptfiguren der Internationalen Biennale der Tapisserie in Lausanne prägt sie ab 1962 zwanzig Jahre lang die Landschaft der Neuen Tapisserie der 1960er- und 1970er- Jahre mit ihren eigenständigen Arbeiten, in denen sich ihr Interesse für die Verwendung organischer Fasern, einer lebendigen, schmieg- samen Materie, spiegelt.

Erste Webarbeiten, Relieftapisserien, grosse weiche Skulpturen, Abgüsse, Knüpfarbeiten und Zeichnungen zeugen von der Kraft und Originalität des Schaffens der polnischen Künstlerin in der Schlüssel- periode zwischen den 1960er-Jahren und 1985. Im kommunistischen Polen nutzt Abakanowicz die Möglichkeiten des Garns (Sisal, Wolle, Lein), um eine Vision, die auf ihrer Beobachtung der Natur und der Menschen gründet, dreidimensional umzusetzen und eine neue künstlerische Ausdrucksweise zu entwickeln.

Auf Ausstellungen in Europa und weltweit erlangt Abakanowicz in den 1980er-Jahren mit ihren monumentalen Installationen und Environments aus Pflanzenfasern, aber auch aus Bronze, Stahl oder Stein internationale Anerkennung in der zeitgenössischen Kunstszene. Lausanne spielt dank der Biennalen der Tapisserie, der von Pierre und Alice Pauli organisierten Ausstellungen sowie der Sammlerinnen und Sammler der Westschweiz eine entscheidende Rolle für den beruflichen und persönlichen Werdegang der polnischen Künstlerin.

Als Kontrapunkt zu ihrer Welt zeigt ein den farbenfrohen geometrischen Kompositionen von Elsi Giauque (1900–1989) gewidmeter Ausstellungssaal die Recherchen der Schweizer Künstlerin rund um Transparenz und Räumlichkeit und veranschaulicht die grundlegenden Innovationen, mit denen sie anlässlich der Biennalen von Lausanne die Textilkunst bereichert hat.

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1. Etage, Raum 1
Magdalena Abakanowicz
Strukturen

Nach Studien der Malerei und Weberei erhält Magdalena Abakanowicz 1954 ihr Diplom der Kunstakademie in Warschau. Einige Jahre lang arbeitet sie als Zeichnerin für Inneneinrichtungsprojekte. Die junge Künstlerin interessiert sich jedoch mehr für das Ausdruckspotenzial von Webarbeiten.

In diesem Raum sind die Anfänge von Abakanowicz’ Recherchen in der Textilkunst zu sehen: Malerei auf Leinwand mit organischen Motiven, experimentelle Webarbeiten, die von der polnischen
Avantgarde (informelle Kunst und Konstruktivismus) inspiriert sind, grosse auf internationalen Kunstbiennalen präsentierte Kompositionen sowie gewerbliche Zeichnungen und Arbeiten auf Papier.

Der Name Magdalena Abakanowicz wird 1962 auf die Liste der Kunstschaffenden gesetzt, die eingeladen sind, Polen an der 1. Internationalen Biennale der Tapisserie in Lausanne zu vertreten. Ihr Webstil, der auf der Natur und der Materialität der verwendeten Garne beruht und ohne einen vorbereitenden Karton (Modell im Massstab 1:1) auskommt, spricht die Betrachtenden durch seine ungewöhnlich strukturierte Faktur an.

Im Jahr 1965 nimmt Abakanowicz mit Desdemona an der 2. Biennale der Tapisserie in Lausanne teil. Die Arbeiten der Polinnen und Polen, insbesondere jene von Abakanowicz, lösen einen Streit zwischen den Verfechtern der klassischen Tapisserie und der jungen Garde aus, die eine totale kreative Autonomie fordern. Im selben Jahr gewinnt die Künstlerin anlässlich der 8. Kunstbiennale von São Paulo eine Goldmedaille in der Kategorie Angewandte Kunst und verbucht damit einen beruflichen wie öffentlichen Erfolg.

Ab 1967 entwirft Abakanowicz Wandarbeiten, deren Konturen und Strukturen den organischen Aspekt des Gewebes noch stärker hervorheben (Assemblage noir). Im Sommer 1967 veranstaltet Alice Pauli in ihrer Galerie in Lausanne eine erste Einzelausstellung der Künstlerin mit Reliefarbeiten; bis 1985 schliessen sich zehn weitere an.

1. Etage, Raum 2
Magdalena Abakanowicz
Altérations

In der Mitte der 1970er-Jahre nimmt Abakanowicz temporär Abstand von der Webkunst und der Assemblage flexibler Elemente wie den Abakans, die sie in Lausanne und weltweit bekannt gemacht (Raum im 2. Obergeschoss), und wendet sich der Darstellung des Menschen und seiner faserartigen Strukturen zu. Ihre hohlen Figuren aus mit Harz versteiften Leinwandsachmaterial erinnern daran, dass Männer, Frauen und Pflanzen der organischen Welt angehören und aus ähnlichen biologischen Elementen bestehen. Die Serien der Dos, Têtes und Embryologies, die in diesem Raum mit Tusche- und Gouachezeichnungen vertreten sind, nehmen einen besonderen Platz im vielgestaltigen Werk der Künstlerin ein.

Für den Zyklus der Altérations schafft Abakanowicz volumenförmige Multiples von Körperabdrücken mit abgeschnit- tenen Köpfen, Armen oder Beinen, welche die Spannungen und Schrecken der Menschheit veranschaulichen. Die Fragmente – Hände, Köpfe, Gesichter – erinnern zudem an die Phänomene des Verschwindens und Verfalls. Die Künstlerin lässt sich von ihren Kindheitserinnerungen, die von Kriegstraumata geprägt sind (ihre Mutter wurde verwundet und verlor einen Arm), aber auch von ihrer täglichen Beobachtung der Gefahren einer Gesellschaft inspirieren, die sich von der Natur und ihren Ursprüngen entfernt hat.

In diesem Sinn bewegt sich Abakanowicz in der Nähe der aktuellen grundlegenden Fragen, mit denen sich die jungen Künstlergenerationen heute auseinandersetzen.

Obwohl die 1970er-Jahre eine Zunahme der Einzelausstellungen der Künstlerin und die Produktion zahlreicher Installationen in Europa und auf mehreren Kontinenten mit sich bringen, bleibt Abakanowicz der Stadt Lausanne, der dortigen Biennale der Tapisserie, den Projekten der Galerie Alice Pauli und der Familie ihrer Lausanner Sammler, Mäzene und Freunde, Pierre und Marguerite Magnenat, treu.

Diese engen und intensiven Beziehungen, die Abakanowicz 25 Jahre lang mit Lausanne verbinden, führen zu mehreren aufeinanderfolgenden Schenkungen, die nun in der Textilsammlung 20. Jh. der Fondation Toms Pauli vereint und teilweise in diesem Raum zu sehen sind.

Die Internationale Biennale der Tapisserie in Lausanne (1962–1995)

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt die Textilkunst einen neuen Aufschwung. In ganz Europa nehmen private Ateliers und nationale Manufakturen an dieser Erneuerung teil. Durch die Veranstaltung einer Biennale wird die Stadt Lausanne ab 1962 zum internationalen Schaufenster für die zeitgenössische Tapisserie. Als Ort der Begegnung, Inspiration und Konfrontation ist die Biennale eine privilegierte Plattform für die wichtigsten Entwicklungen des Mediums, die vom Wandteppich zur Textilskulptur und zur Fiber Art führen.

Am Anfang der Biennale steht eine professionelle Zusammenarbeit, jene des Kunstliebhaber-Ehepaars Pierre (1916–1970) und Alice Pauli (1922–2022) und des französischen Künstlers Jean Lurçat (1892–1966). Aus dieser fruchtbaren Beziehung, die von der Stadt Lausanne und dem Musée cantonal des Beaux-Arts unterstützt wird, geht das Centre international de la tapisserie ancienne et moderne (CITAM) hervor, das die im Palais de Rumine durchgeführte Veranstaltung organisiert. Bis 1995 fördern die sechzehn Ausgaben der Biennale die Umwandlung der klassischen in die Neue Tapisserie, in eine freie Kunstform, die sich über etablierte Kunstkategorien hinwegsetzt.

In zwanzig Jahren nimmt Magdalena Abakanowicz zehnmal und Elsi Giauque achtmal an der Biennale in Lausanne teil. Ihre Werke werden in allen grossen internationalen Gruppenausstellungen
gezeigt, die dem Medium gewidmet sind. Die beiden Künstlerinnen bringen einander grosse Wertschätzung entgegen.

1.Etage, Raum 3
Elsi Giauque

Elsi Giauque (1900–1989), Doyenne und Hauptfigur der Schweizer Neuen Tapisserie, studiert in Zürich. Dort lernt sie die von Sophie Taeuber-Arp und Otto Morach vermittelten konstruktivistischen Prinzipien kennen, die sie auf Textilien anwendet.

Bereits 1945 stellt sie die klassische Tapisserie in Frage, indem sie ihren Webstuhl mit ungewöhnlichen Materialien wie Maisblättern oder Sisal bestückt. Damit nimmt sie vorweg, was zwanzig Jahre später als Revolution angesehen wird.

Elsi Giauque ist als Textildesignerin für Mode und Inneneinrichtungen tätig. Im Rahmen zahlreicher öffentlicher Aufträge arbeitet sie eng mit Architekten zusammen, um Textilien in den gebauten Raum zu integrieren. Ihre Schülerin Käthi Wenger (1922–2017) wird 1950 ihre regelmässige Mitarbeiterin.

Nach zwanzigjähriger Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule in Zürich, wo sie zahlreiche Textilkünstlerinnen ausgebildet hat, geht Elsi Giauque 1965 in Pension und widmet sich ganz dem freien Gestalten. Nun entstehen kühne wand- oder raumbezogene geometrische Kompositionen, für welche die Künstlerin nach Farb und Formkombinationen sowie nach Transparenz-Wirkungen sucht.

Auf der 4. Biennale von Lausanne präsentiert Giauque 1969 Elément virtuel spatial, eine Installation mit variabler Konfiguration, die aus mit Kettfäden bespannten Rahmen besteht. Gleich wie der in demselben Jahr ausgestellte Abakan rouge von Abakanowicz markiert dieses Werk einen entscheidenden Schritt in der neuen raumgreifenden Konzeption der Tapisserie. Die Künstlerin spielt mit den unterschiedlichen Texturen der gewählten Garne und der Überlagerung von Farben, deren Wahrnehmung sich je nach Standort der betrachtenden Person verändert.

2e Etage
Magdalena Abakanowicz
Den Raum skulptieren

In den späten 1960er- und frühen 1970er- Jahren gestaltet Magdalena Abakanowicz (Polen, 1930–2017) eindrucksvolle, im Raum hängende Webskulpturen, welche die Weise verändern, wie Tapisserie und Plastik wahrgenommen werden. Es gelingt ihr, eine neue Form des künstlerischen Ausdrucks zu schaffen, die sich jeder Kategorisierung entzieht.

Eine von der Vieldeutigkeit ihrer Werke irritierte Kunstkritikerin prägt 1964 den vom Nachnamen der Künstlerin inspirierten Ausdruck Abakan, den die Künstlerin für ihre grossen dreidimensionalen Werke übernimmt. Aufgrund ihres unklassifizierbaren Charakters werden die weichen Webobjekte als eigenständige Kunstwerke ausserhalb von Kunsthandwerk und Angewandter Kunst betrachtet.

Abakanowicz lehnt es ab, dass ihre Ausstellungen als Abfolge von Objekten wahrgenommen werden. Stattdessen will sie die Spannungen zwischen den verschiedenen Elementen, zwischen Licht, Schatten und Dunkelheit skizzieren. Diese geheimnisvollen, schützenden Formen beziehen ihr Wesen aus der schönen und zugleich unheimlichen organischen Welt, die voller Lebenskräfte steckt.

Die formbaren, sogar verwandelbaren Abakans werden von der Künstlerin in dichten Arrangements gezeigt, die sie als
«Raumsituationen» und dann als «Environ- ments» bezeichnet. Abakanowicz betrachtet jede Ausstellung als ein Werk für sich; sie bestimmt den Standort der einzelnen Stücke und gruppiert sie je nach dem Raum, in dem sie ausgestellt sind: Galerie oder Museum, Performance im Freien wie für den Film Abakany (Abakans), der in den Dünen der polnischen Ostseeküste entstand. Stets wünschte sie, dass die Besuchenden beim Betrachten der eigens für sie entworfenen Installationen etwas Neues erleben und eine ihnen noch unbekannte Erfahrung machen.

Die grossen Abakans sind in diesem Raum neben mehreren Wandarbeiten zu sehen, welche die Künstlerin für Innenräume von Privatpersonen in der Westschweiz geschaffen hat.

2e Etage
Plan

1. Abakan étroit, 1967-1968
Sisal und Wolle
Fondation Toms Pauli, Lausanne

2. Abakan rond, 1967-1968
Sisal
Muzeum Narodowe, Wrocław

3. Abakan 29, 1967-1968
Sisal und Wolle
Fondation Toms Pauli, Lausanne

4. Abakan vert, 1967-1968
Sisal
Privatsammlung, Varsovie

5. Manteau brun (Abakan brun), 1968
Sisal
Sammlung Henie Onstad
Henie Onstad Kunstsenter, Høvikodden

6. Grande Fleur, 1981
Sisal und Lein
Fondation Toms Pauli, Lausanne

7. Abakan orange (Robe baroque), 1968
Sisal
National Museet, Stockholm

8. Abakan orange, 1971
Sisal
Tate, London

9. Abakan rouge, 1969
Sisal
Tate, London

10. Abakan rouge III, 1970-1971
Sisal
Fondation Toms Pauli, Lausanne

11. Abakan – Situation variable II, 1971
Sisal und Seil
Kunstsammlung der Stadt Biel

12. Abakan brun, 1969
Sisal
Röhsska Museet, Göteborg

13. Ohne Titel (Wandkreation für Frau Alice Pauli), 1979-1980 Sisal und Lein
Fondation Toms Pauli, Lausanne

14. Abakan janvier-février, 1972
Sisal
Muzeum Narodowe, Wrocław

15. Boule noire (Boule), 1975
Sisal
Privatsammlung, Warschau

16. Abakan jaune (Abakan jaune avec cordes), 1970
Sisal und Lein
Muzeum Narodowe, Poznań