Ausstellungsführer
Silvie Defraoui. Das Wanken der Gewissheiten
Einführung
Die Ausstellung Le tremblement des certitudes [Das Wanken der Gewissheiten] bietet einen Überblick über die letzten dreissig Schaffensjahre der Künstlerin Silvie Defraoui (*1935, St. Gallen), einer der Hauptfiguren der Schweizer Kunstszene. In ihrer Arbeit hinterfragt Silvie Defraoui unsere Beziehung zum Bild und die Art und Weise, wie dieses die Realität vermittelt. Sie lädt uns ein, die Vergänglichkeit der Gegenwart als eine der Voraussetzungen für die menschliche Erfahrung zu begreifen. Zerschnittene und wieder zusammengefügte Fotografien, Videos, die auf die Wand, den Boden oder Salz projiziert werden, Leinwände oder Neonröhren vereinen Texte, Symbole und grafische Elemente, als wären es Hinweise, anhand derer sich die Erzählungen von gestern, heute und morgen neu überdenken lassen.
Die gesamte Produktion von Silvie Defraoui ist Teil des Archives du futur [Archiv der Zukunft], einer 1975 von ihr und Chérif Defraoui gegründeten Sammlung, die seit 1994, dem Todesjahr ihres Manns, von ihr allein erweitert wird. Wie ein Ideennetz bildet dieses Ensemble einen Diskurs über die Fragen des Bilds, der Erinnerung und der Bezüge zwischen Raum und Zeit. «Archives du futur bedeutet, die Gegenwart zu betrachten, um zu erfahren, was morgen sein wird», kommentiert Silvie Defraoui. Die Besonderheit des gegenwärtigen Augenblicks besteht darin, stets in Bewegung zu sein. Ständig erschüttert der Augenblick unsere Gewissheiten und verlangt eine permanente Neubewertung von Geschichten, Bildern und Motiven.
Destinations und Indices de variation
Destinations ([Destinationen], 1994–1995) ist eine Sammlung von Wörtern und Bildern: Postkarten mit Landschaften, Ornamenten oder Bauwerken, die Eindrücke von Ägyptenreisen zeigen. Durch die Collage und die Überlagerung uralter Motive setzt Silvie Defraoui neue Landschaften der Erinnerung. Diese Arbeit bildet einen Wandfries. Die Rahmen sind auf zwei Ebenen angeordnet und zeichnen zwei Horizontlinien. Sie fügen sich mit einer für das Ornament typischen Regelmässigkeit zusammen und bieten zwei Lektüreebenen: jene des Bilds in der oberen und jene der Schrift in der unteren Linie. Die Texte benennen ägyptische Orte, die es gibt. Es sind jedoch nicht jene auf den über ihnen befindlichen Postkarten.
An den Wänden gegenüber von Destinations sind vier Fotografien aus der Serie Indices de variation ([Zeichen der Veränderung], 2001–2002) zu sehen, die den Begriff der Zeit durch eine subtile Manipulation in das Bild einführen. Wellen–die eines zerknitterten Stoffs–dringen in die Fotografie von sich im Wandel befindenden Orten oder Städten ein, und deuten deren unmerkliche Veränderung im Laufe der Zeit an.
Dans le cadre des histoires…
In jedem Teil dieser Serie wird ein monochromes Bild der Vegetation von geometrisch geformten Rahmen zerschnitten, die ihrerseits wie verschiedene Elemente eines ornamentalen Motivs an der Wand angeordnet sind. Die Mitte dieses Bilds nimmt eine SchwarzweissFotografie ein, die auf eine persönliche Erinnerung der Künstlerin anspielt. Dieses zerstückelte zentrale Bild lässt sich gedanklich nur schwer rekonstruieren. Es entzieht sich uns, genauso wie die Erinnerung an einen Moment durch spätere Eindrücke, die Zeitund das Vergessen. Dans le cadre des histoires … ([Im Rahmen der Geschichten…], 1996–1999) erinnert daran, dass die Wahrnehmung der Welt und deren Darstellung stets fragmentarisch und sogar begrenzt sind–durch den Rahmen der Elemente eines Motivs, unseres Blicks, einer Form, der Erinnerung. Mit dieser Arbeit kehrt Silvie Defraoui zu den Ursprüngen der Formen zurück, die zu allen Zeiten und in allen Kulturen von Pflanzen und der Natur inspiriert wurden.
Poème und Echo
Ornamente und Motive zählen zu den ältesten Bildern der Menschheit und stehen im Mittelpunkt der Arbeit von Silvie Defraoui.Die Künstlerin beschäftigt sich mit dem dekorativen Charakter der Schrift, deren Buchstaben beim Lesen nicht mehr als das gesehen werden, was sie auch sind: Symbole und Zeichen. In Poème ([Gedicht], 2000) erhalten die Buchstaben ihren Bildcharakter zurück. Hier wird eine Strophe des amerikanischen Dichters T. S. Eliot, die sich auf die verbergende Wirkung des Schattens bezieht, nicht mehr gelesen, sondern betrachtet. Auf fünfzehn Leinwänden angeordnet und entlang einer horizontalen Linie beschnitten, die das untere Drittel jedes Buchstabens auslöscht, wird die Schrift in den Bereich der Geometrie und des Ornaments zurückversetzt.
An derselben Wand hängt in luftiger Höhe das Neonbild Echo. Sombras electricas II([Echo. Elektrische Schatten II], 2009), ein Relief, welches das Aussehen der Buchstaben des Wortes «Echo» verändert. Es kann nur von einem bestimmten Standpunkt aus gelesen werden; wenn man sich bewegt, verformen sich die Buchstaben: Sie dehnen sich und verändern sowohl die Schriftzeichen als auch die ursprüngliche Bedeutung des Worts.
Faits et gestes
Die Serie Faits et gestes ([Tatsachen und Gesten], 2009–2014) konfrontiert zwei Realitäten. Auf der einen Seite die Aktualität und die katastrophalen Nachrichten aus aller Welt, deren Bilder uns in einem solchen Tempo erreichen, dass sie banal werden und uns abstumpfen lassen. Auf der anderen Seite der häusliche Komfort, der privilegierte Ort, an dem wir diese Nachrichten zur Kenntnis nehmen. Hier überlagert die beiden Register. In jedem Werk stellt Silvie Defraoui eine Pressefotografie von Katastrophen, die so vergrössert wurde, dass der Bildraster sichtbar wird, einer Aufnahme von Blumen gegenüber, die jenen in unseren Gärten und Interieurs gleichen. Die Realitäten des intimen Raums und derAussenwelt prallen aufeinander und veranschaulichen die Dualität unseres Lebens, das zwischen den Tatsachen der Welt und den Gesten des Alltags, zwischen dem intimen Raum und den Ereignissen der Geschichte hin und her schwankt.
Ombres portées…
Diese Serie, die neueste in der Ausstellung, entstand während des durch die Corona-Pandemie bedingten Lockdowns. Die Welt hatte sich auf die eigenen Wohnräume reduziert. Man beobachtete von innen eine Aussenwelt, die voller Bedrohungen und Ungewissheiten schien. Die Werke der Serie Ombres portées…([Schlagschatten…], seit 2020) schlagen vor, zu den Ursprüngen von Ängsten und Befürchtungen zurückzukehren, indem sie den Vorhang zum Thema machen: Er ist die Schnittstelle, die das Innere vom Äusseren trennt, verbirgt, aber gleichzeitig das Erahnen ermöglicht. Die Serie formuliert erneut das von Silvie Defraoui geschätzte Prinzip der Schichten: Ein Schleier birgt ein Schattentheater aus unheimlichen Pflanzen und Tieren, die auf den Vorhangstoff projiziert werden. Es handelt sich um Archetypen der Angst, welche die Zeiten überdauert: Zeichnungen und Stiche des 16. Jahrhunderts, darunter auch Werke von Albrecht Dürer. Sie illustrieren uralte Ängste und erinnern daran, dass unsere stärksten Emotionen eine jahrhunderlange Geschichte und eine Bildwelt haben.
Projektionsraum
Seit den 1970er Jahren interessiert sich Silvie Defraoui–zunächst mit Chérif Defraoui und später allein– für bewegte Bilder augrund ihrer Projektions-Fähigkeit im wörtlichen Sinn (Projektion eines Bilds), wie im übertragenen Sinn (Projektion einer Idee, von Gedanken, Geschichten, des Gedächtnisses). Die in diesem Raum gezeigten Videos variieren diese Idee auf verschiedene Weise.
Bruits de surface ([Oberflächengeräusche], 1995) erinnert an Momente der Trennung, wenn Bilder verloren gehen, in Vergessen geraten oder durch andere ersetzt werden. Fotografien werden auf Gläser projiziert, die sich nach und nach mit Milch füllen, sodass die Bilder aus der persönnlichen Alben der Künstlerin allmählich sichtbar werden. Eine Hand fegt die Erinnerung weg; die Gläser werden zerschlagen, doch sofort durch andere ersetzt.
Résonnances et courants d’air ([Resonanzen
und Luftzug], 2009) reaktiviert ebenfalls Geschichten der Vergangenheit. Die Kamera erkundet ein leeres Haus, das die Erinnerungen und Fantasien seiner einstigen Bewohner:innen bewahrt hat. Sie hält an den Schwellen der Räume inne, wo die Stimme der Künstlerin immer wieder eine neue Geschichte erzählt, die von den Märchen Scheherazades aus Tausendundeiner Nacht inspiriert ist –einer endlosen Textsammlung, da jede Geschichte am Folgetag eine Fortsetzung findet.
Aphrodite Ping Pong (2005) verkehrt die Faszination, die von Bildern der Zerstörung ausgeht, in ihr Gegenteil. In zehn Sequenzen fallen geometrische Objekte eines nach dem anderen auf Teller und zerbrechen sie. Der Moment des Aufpralls wird nie gezeigt. Stattdessen nutzt die Künstlerin das Potenzial des rückwärts abgespielten Videos, um ausschliesslich Bilder der Rekonstruktion zu zeigen: Die Tellerteile scheinen zu implodieren, um sich in Zeitlupe wieder zusammenzusetzen.
Bodenprojektionen
Silvie Defraoui hat die Projektionsflächen oft variiert, um die Möglichkeiten der Videoinstallation auszuloten. Hier verwandelt sie den Raum mit der Bodenprojektion. Die Videos zeigen immer neue neue Bewegungen: Rosenblätter werden von einer Brise weggeblasen (Vor deiner Tür, 2000–2001), kreisförmige Projektionen zeigen Wörter und Bilder, die ihrerseits auf Geschichten ohne Ende verweisen. Im
Zentrum von Tide ([Gezeiten], 1994) reihen sich Bilder in einer Kristallkugel aneinander. Ein englischer Satz umgibt sie wie ein Omen: «Was man am meisten fürchtet, tritt immer ein.» Dieser Vers aus dem Tagebuch des italienischen Dichters Cesare Pavese spiegelt die Sorge und die Erwartung des Schlimmsten, die wir stets hegen. Tell This Story ([Erzähl diese Geschichte], 2004) ist schliesslich eine Einladung zu Märchen und Fiktion: Unvollendete Sätze, die in einem Kreis auf zerknittertes Papier projiziert werden, kündigen pointenlose Geschichten an, deren Fortsetzung der Vorstllungskraft jeder und jedes Einzelnen überlassen bleibt.