Ausstellungsführer
Alice Pauli. Galeristin, Sammlerin und Mäzenin

Einführung

In den späten 1940er-Jahren beginnt sich Alice Pauli (Moutier 1922–2022 Lausanne), die damals in der Uhrenbranche tätig ist, für Kunst und Ausstellungen zu interessieren. Ihre ersten Schritte im Kunstmarkt-milieu macht sie 1954, als sie den Vertrieb der Tapisserien von Jean Lurçat übernimmt. Zusammen mit ihrem Ehemann Pierre Pauli trägt sie zur Lancierung der Biennales internationales de la tapisserie in Lausanne bei.

Im Jahr 1961 eröffnet Alice Pauli ihre eigene Galerie in der Avenue de Rumine Nr. 7 in Lausanne. Von Anfang an ist sie bestrebt, ihrer Tätigkeit eine internationale Ausstrahlung zu verschaffen, und widmet eine ihrer ersten Ausstellungen den Lithografien des amerikanischen Künstlers Sam Francis. Dank des vom Musée cantonal des Beaux-Arts veranstalteten Salon international de galeries-pilotes knüpft sie Kontakte zu zeitgenössischen ausländischen Kunstschaffenden wie Alicia Penalba, Mark Tobey und Maria Helena Vieira da Silva, die sie in ihrer Galerie ausstellt.

Obwohl Alice Pauli im Laufe der Zeit ihre Galerie immer mehr auf die Welt öffnet, vernachlässigt sie keineswegs die Kunstszene in Lausanne und im Kanton Waadt und stellt Künstler wie Jean Lecoultre und Juan Martínez aus. Die Projekte, die sie mit den beiden realisiert, verleihen dem Westschweizer Kunstleben einen aussergewöhnlichen Aufschwung und tragen zum Ruf ihrer Galerie bei. Alice Pauli nimmt ebenfalls an grossen internationalen Messen teil und erweitert so ihre Tätigkeit und ihr Netzwerk. Als ihr Sohn Olivier 1989 zu ihr stösst, verlegt sie die Galerie in das Lausanner Flon-Quartier in Räumlichkeiten, die sich besser für grossformatige Kunstwerke eignen.

Für ihre persönliche Sammlung behält Alice Pauli Werke jener Kunstschaffenden zurück, deren Werdegang sie mit Leidenschaft verfolgt und mit denen sie gelegentlich dauerhafte Freundschaften schliesst. Diese Stücke, die an den Wänden ihres Hauses hängen und in ihrem Garten stehen, begleiten sie im Alltag und helfen ihr, die schmerzhaften Prüfungen des Lebens zu bestehen.

In den frühen 1990er-Jahren zieht Alice Pauli die Aufmerksamkeit auf sich, da sie zu den ersten und aktivsten Unterstützerinnen und Unterstützern des Projekts für den Bau eines neuen Kunstmuseums in Lausanne gehört. In Fortsetzung ihres Engagements trägt sie zur Finanzierung des neuen Gebäudes bei, das 2019 auf dem Gelände der Plateforme 10 eröffnet wird. Für die Ausschmückung der Eingangshalle stiftet sie eine monumentale Skulptur von Giuseppe Penone. Mit weiteren Schenkungen bedeutender Kunstwerke, insbesondere von Pierre Soulages, Anselm Kiefer, Louise Nevelson und Rebecca Horn, bereichert sie regelmässig die Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst.

Bei ihrem Tod setzt Alice Pauli den Staat Waadt als Alleinerben zugunsten des Musée cantonal des Beaux-Arts ein. Die Ausstellung bietet Gelegenheit, den Werdegang dieser aussergewöhnlichen Galeristin, Sammlerin und Mäzenin in Form einer Hommage vorzustellen.

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1. Etage

Alice Pauli

Alice Bucher, die am 13. Januar 1922 als zweites von vier Kindern geboren wird, wächst in Moutier im Schweizer Jura auf. Im April 1937 beginnt sie ihre berufliche Tätigkeit als Lernende und dann als Büroangestellte in der Uhrenfirma Louis Schwab. 1943 eröffnet das Unternehmen ein Verkaufsbüro in Lausanne und überträgt ihr die Führung. Alice Bucher reist häufig ins Ausland, um eine internationale Kundschaft zu besuchen.

Laut ihrer eigenen Aussage entdeckt sie, die aus einem kunstfernen Milieu stammt, bei Aufenthalten in den Vereinigten Staaten, London und Paris die Freude an Museumsbesuchen. Der Grund ihrer Vorliebe für Tapisserien ist nicht ganz klar;vielleicht war es der Besuch einer Ausstellung in London im Jahr 1947. Es ist vor allem die Liebe auf den ersten Blick, die sie in sentimentaler und künstlerischer Hinsicht mit Pierre Pauli verbindet–die beiden heiraten 1954–und die sie veranlasst, im Februar 1953 ihre Stelle zu kündigen, um gemeinsam mit Pierre eine künstlerische und geschäftliche Tätigkeit aufzunehmen. Im Anschluss an ihre Vertriebstätigkeit für das Werk von Jean Lurçat eröffnet Alice Pauli im Mai 1961 ihre Galerie, die nach ihrem Tod am Juli 2022 geschlossen wird.

Julius Bissier

Der Kunsthistoriker und Museumsdirektor Werner Schmalenbach, den Alice Pauli im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit für Jean Lurçat kennenlernt, macht sie auf die deutsche Kunstszene der 1950er-und 1960er-Jahre aufmerksam. Dank ihm entdeckt die Galeristin das Werk des deutschen Malers Julius Bissier (Freiburg im Breisgau 1893–1965 Ascona), zu dessen Kennern Schmalenbach zählt.

Am 8. Juni 1965 schreibt Alice Pauli an Bissier und schlägt ihm vor, eine Ausstellung seiner Werke in ihrer Galerie zu veranstalten, doch kommt der Brief fatalerweise nur wenige Tage vor dem Tod des Malers am 18. Juni an. Lisbeth Bissier, die Witwe des Künstlers, antwortet einige Wochen später, eine Zusammenarbeit komme nicht in Frage, da die Galerie Beyeler in Basel die exklusive Vertratung für Bissiers Werk in der Schweiz besitze. Sie schlägt jedoch Alice Pauli vor, sich mit ihr in Ascona zu treffen, wo der Künstler seit 1961 ansässig war. Dank ihres Verhandlungsgeschicks gelingt es der Galeristin, die Genehmigung für die Ausstellung von Bissiers Tapisserien zu erhalten.

So trägt Alice Paulis Überzeugungskraft schliesslich den Sieg davon, und 1970 erhält sie zudem das Recht, Bissier in der Schweiz zu vertreten. Der Maler wird sogar rasch zu einem der wichtigsten Künstler der Galerie.

Der Erfolg ist so gross, dass Lisbeth Bissier nicht zögert, der Galeristin den Verkauf zahlreicher Werke aus dem Nachlass anzuvertrauen. So stellt diese bis 2015 immer wieder (mehr als sechzigmal!) Tempera-und Ölgemälde sowie Tuschezeichnungen Bissiers aus.

Jean Lurçat

Im Winter 1953–1954 beschliessen Alice und Pierre Pauli, sich von nun an der Bewahrung und Förderung der modernen Tapisserie zu widmen. Damals gibt es in der Schweiz niemanden, der speziell die Entwicklung der Tapisserie beobachtet oder Handel mit Textilkunst betreibt. Im April 1954 trifft Alice Pauli in Paris den Franzosen Jean Lurçat (Bruyères 1892–1966 Saint-Paul-de-Vence), den wichtigsten Akteur der Erneuerung der Tapisserie in Frankreich wie in der ganzen Welt. Sie schlägt ihm vor, den Vertrieb seiner Arbeiten in der Schweiz zu übernehmen und eine grosse Ausstellung seines Werks in Lausanne zu veranstalten. Die Schau findet im Herbst 1954 in den Räumen des Musée d’art décoratif im Palais de Rumine statt.

In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre floriert der Handel mit Lurçats Werken. Alice Pauli bestellt regelmässig neue Stücke in den Manufakturen von Aubusson, um ihrer Kundschaft eine grosse Auswahl an Sujets vorlegen zu können. Neben klein-und mittelformatigen Tapisserien, die sie zu Dutzenden verkauft, werden von wichtigen Schweizer und deutschen Unternehmen wie Bayer, Schweizerischer Bankverein, Nestlé und Deutsche Bank grossformatige Sonderkreationen in Auftrag gegeben. Dank Alice Pauli schmücken Lurçats Tapisserien die Wände des Nationaltheaters Mannheim, der Kölner Philharmonie und des Kultusministeriums in Stuttgart.

Alice Pauli veranstaltet eine Reihe von Ausstellungen von Lurçats Tapisserien in deutschen und Schweizer Museen, insbesondere 1962 im Kunsthaus Zürich. Sie ist auch an der Förderung und dem Verkauf von Werken des Künstlers beteiligt: Lithografien, Keramiken, Zeichnungen, Gouachen und Schmuck, der in Zusammenarbeit mit der Firma Patek hergestellt wird.

Polen ∙ Jugoslawien

Im März 1963 reisen Pierre Pauli und der Lausanner Kunstkritiker André Kuenzi nach Polen, um Kunstschaffende zu treffen, die im Bereich der Tapisserie tätig sind. Zu dieser Zeit erkunden viele polnische Künstlerinnen und Künstler trotz der Zensur des kommunistischen Regimes neue Wege. Die Kraft ihrer Kompositionen und die Materialität einiger ihrer Webund Wirkarbeiten unterscheiden sich von der klassischen Tradition der Tapisserie. Zudem werden die Werke von den Kunstschaffenden selbst und nicht mehr von Manufakturen ausgeführt. Da nicht genügend Wolle zur Verfügung steht, arbeiten einige mit Hanfgarnen, Baumwoll-schnüren oder Sisalfasern. Sie stellen die Definition des Webens in Frage, indem sie Materialien wie Holz, Metall oder Fell einbeziehen. Auf diese entscheidende Reise folgen weitere in Begleitung von Alice Pauli mit dem Ziel, eine grosse Wanderausstellung durch mehrere europäische Museen zu veranstalten.

Von Pierre Pauli übernimmt Alice Pauli ebenfalls das Interesse an der zeitgenössischen polnischen Malerei und Grafik. Der Beitrag polnischer Kunstschaffender in Bereichen wie Theater, Literatur und Lyrik, aber auch in Tapisserie fand in jenen Jahren in der Schweiz und auf internationaler Ebene volle Anerkennung. Bis Anfang der 1980er-Jahre trägt die Galerie Alice Pauli auf ihre Weise mit regelmässigen Ausstellungen zu diesem Ruhm bei.

In den 1960er-Jahren reist Alice Pauli, oft in Begleitung ihres Manns Pierre Pauli, in andere osteuropäische Länder wie Jugoslawien, um Kunstschaffende zu treffen, die wie der Bildhauer Dušan Džamonja oder die Textilkünstlerin Jagoda Buić in Westeuropa noch nicht oder nur wenig bekannt sind.

Italien

Die drei Ausgaben des Salon international de galeries-pilotes, die 1963, 1966 und 1970 im Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne stattfinden, sind für Alice Pauli eine Gelegenheit, sich mit der Welt des internationalen Kunstmarkts vertraut zu machen. Sie bieten ihr Gelegenheit, einige der bedeutendsten damaligen Galeristen und zahlreiche Kunstschaffende kennenzulernen. Anlässlich der Ausgabe von 1963 knüpft sie einen ersten Kontakt zu dem Mailänder Arturo Schwarz. Dank Werken, die er ihr anvertraut, kann sie Ausstellungen der italienischen Künstler Roberto Crippa (Monza 1921–1972 Bresso) und Enrico Baj (Mailand 1924–2003 Vergiate) veranstalten.

Im August 1964 verbringen Alice und Pierre Pauli mit ihrem Sohn Olivier einige Tage an der ligurischen Küste unweit von Genua. Diese Ferien am Meer bieten der Galeristin vor allem Gelegenheit, Künstler zu treffen, die in Albisola leben und experimentelle Recherchen in der Kunst der Keramik unternehmen. Vor Ort sieht sie Crippa und Baj wieder, doch die wichtigste Begegnung dieses Jahrs ist jene mit Lucio Fontana (Rosario 1899–1968 Comabbio). Alice Pauli kehrt mit zwei Werken dieses Künstlers zurück, für die sie einen der ihr am nächsten stehenden Sammler im Auge hat.

Wie sie erzählt, nahm sie 1968 erneut Kontakt zu Fontana auf, der ihr angeboten hätte, Werke aus seiner Venezie-Serie auszustellen: grossformatige Bilder mit einer dicken Schicht Ölfarbe, in die oft Stücke von Muranoglas eingelegt sind. Alice Pauli war sich nicht sicher, ob eine solche Ausstellung bei ihrer Kundschaft Erfolg hätte, und beschloss, erst mit ihrem Mann darüber zu reden, bevor sie sich endgültig auf Fontana einliesse. Dieses Zögern wirkte sich zu ihrem Nachteil aus: Der Künstler starb in der Zwischenzeit, und das Projekt kam nicht zustande.

Alicia Penalba

Vermutlich entdeckt Alice Pauli 1966 anlässlich des 2. Salon international de galeries-pilotes in Lausanne die Skulpturen von Alicia Penalba (San Pedro, Argentinien 1913–1982 Dax, Frankreich) am Stand der Galerie des Parisers Claude Bernard. Sie richtet der Künstlerin zwei Einzelausstellungen (1967 und 1971) aus und zeigt deren Arbeiten in 30 Gruppenausstellungen. Zwar kann sie aufgrund der Grösse ihrer Lausanner Galerie nur kleine und mittelgrosse Skulpturen auswählen, doch präsentiert sie 1980 in Vernier und St. Gallen monumentale Stücke im Freien.

Penalbas Kunst zeichnet sich durch Einfachheit und Kraft aus. Ihre ersten abstrakten Skulpturen entstehen 1951. Ab 1953 konzipiert sie ein Ensemble vertikaler Bronzearbeiten, die würdevollen Baumstämmen gleichen. In der Folge entwickelt sie mehrere Serien, in denen die Formen in sich zusammengezogen oder zersplittert sind und deren Kanten und Wellen Rhythmen und Schattenspiele bilden. In den 1960er-Jahren drücken ihre Werke mit waagrechten und schrägen Volumen den Schwung einer Aufwärtsbewegung in instabilem Gleichgewicht aus.

Parallel zur Anfertigung ihrer monumentalen und kleinformatigen Skulpturen unternimmt Penalba künstlerische Recherchen in Druckgrafik, Tapisserie, Porzellan und Schmuck.

Maria Helena Vieira da Silva · Mark Tobey

Im Jahr 1963 entdeckt Alice Pauli auf dem Salon international de galeries-pilotes in Lausanne die Arbeiten der gebürtigen Portugiesin und eingebürgerten Französin Maria Helena Vieira da Silva (Lissabon 1908–1992 Paris) und des Amerikaners Mark Tobey (Centerville, Wisconsin 1890–1976 Basel). Beide werden von der Pariser Galerie Jeanne Bucher ausgestellt.

Alice Pauli richtet Vieira da Silva 1964 eine Einzelausstellung aus und zeigt ihre Werke in mehr als 40 Gruppenausstellungen. Olivier Pauli, welcher der Künstlerin nahesteht, veranstaltet nach ihrem Tod 1992 eine Hommage-Ausstellung über ihren Werdegang, der von ihrer unermüdlichen Auseinandersetzung mit urbanem Wandel, Perspektive und der Musikalität des Pinselstrichs zeugt.

Die Werke Mark Tobeys stellt Alice Pauli 1965 erstmals aus. Die Beziehung freundsschaftlicher und geschäftlicher Art, die daraus hervorgeht, dauert bis zum Tod des Künstlers im Jahr 1976 an. Die Galeristin widmet Tobey vier Einzelausstellungen und präsentiert seine Werke in mehr als 60 Gruppenausstellungen. Sie ist fasziniert von seinem Werk, das von Einflüssen wie der chinesischen Malerei, der arabischen Schrift und der persischen Kalligrafie geprägt ist, und erkennt auch sich selbst wieder in dem stets reiselustigen Mann, der sich so sehr für Musik begeisterte, dass er Klavier und Musiktheorie studierte.

2. Etage

XXL-Tapisserien

Die Galerie Alice Pauli ist eine der ersten, die das einzigartige Werk von Magdalena Abakanowicz (Falenty 1930–2017 Warschau) ausserhalb Polens fördern. Von 1964 an setzen sich Pierre und Alice Pauli sowie später Alice allein bei Museen und Privatsammlungen energisch für die Arbeit der Künstlerin ein. Alice Pauli zögert nicht, in ihrer Galerie grossformatige Stücke zu präsentieren; aufgrund ihrer Abmessungen fotografiert sie diese im Freien, um Bildvorlagen für die von ihr herausgegebenen Kataloge zu erhalten. Sie begleitet die Künstlerin auch bei der Ausführung von Sonderaufträgen für eine in-und ausländische Kundschaft. 1968 fertigt Abakanowicz ihre ersten dreidimensionalen Webarbeiten an: die Abakans. Diese flexiblen, autonomen Skulpturen, die frei im Raum hängen, sind aus Sisalfasern gefertigt.

Ab 1965 werden die monumentalen Werke der kroatischen Künstlerin Jagoda Buić (Split 1930–2022 Venedig) dank der von Pierre Pauli mitbegründeten Biennale internationale de la tapisserie in Lausanne weltweit bekannt. Nach Pierres Tod im Dezember 1970 beschliesst die Künstlerin, ihr Projekt für die 5. Biennale von 1971 in Hommage à Pierre Pauli umzubenennen. Die Anordnung der flexiblen Flächen in Kreisbögen und der Wechsel zwischen Leere und Fülle verleihen dieser Installation einen starken strukturellen und theatralischen Charakter.

Die von der Wand entfernte Komposition fällt wie ein stark gegliederter Bühnenvorhang. Das Werk zeugt in reichem Masse von seiner Verwurzelung in der Volkstradition: Die verwendeten Materialien–Wolle, Sisal, Ziegenhaar, Golddraht und Gold- papier–sind dem traditionellen slawischen Handwerk entlehnt, dessen Erbe Buić pflegt.

Grosse Bäume und Junge Triebe

Das Ausstellungsprogramm von Alice Pauli gewinnt im Laufe der Jahre an Vielfalt und Weltoffenheit. In ihrer Galerie lässt sie Gemälde, Skulpturen, Druckgrafiken und Textilien von Kunstschaffenden mit unterschiedlichsten ästhetischen Vorstellungen zueinander in Dialog treten, nebeneinander bestehen oder aufeinanderprallen. Die folgenden Sektionen dieser Ausstellung, welche die Künstlerinnen und Künstler unter Themenschwerpunkten vereinen, zeugen von dieser Pluralität.

Durch eine kunstvolle Ausgewogenheit zwischen persönlichem Geschmack, Kundenerwartungen und finanziellen Ressourcen gelingt es Alice Pauli, anerkannte Kunstschaffende an sich zu binden und mit jungen Talenten Risiken einzugehen. Obwohl sie sich hauptsächlich für die internationale Szene interessiert und mit der Zeit dieser Öffnung auf die Welt den Vorzug gibt, vernachlässigt sie keineswegs die Kunstszene in Lausanne und im Kanton Waadt. Olivier Pauli sprach gerne von «grossen Bäumen» und «jungen Trieben» und verglich die Galerie Alice Pauli mit einem «Wald». Während Mutter und Sohn das Unternehmen von April 1989 bis Ende 1993 gemeinsam leiten, kümmert sich Alice um «grosse Bäume» wie Pierre Soulages, Louise Nevelson, Jim Dine und Frank Stella, während sich Olivier auf die Suche nach aufstrebenden Kunstschaffenden wie Jean-Pierre Pincemin, Philippe Cognée und Émilienne Farny begibt.

Pierre Soulages

Im Jahr 1970 stellt Alice Pauli zum ersten Mal eine Malerei des französischen Malers Pierre Soulages (Rodez 1919–2022 Nîmes) aus. Doch erst 1987 beschliesst sie auf Betreiben ihres Sohns Olivier, zu dem Künstler in Kontakt zu treten, um ihm die Ausrichtung einer Ausstellung vorzuschlagen. Auch wenn sich die beiden regelmässig treffen, dürfte sich der Maler dagegen gewehrt haben, an der ersten Adresse der Galerie in der Avenue de Rumine in einer bürgerlichen Wohnung auszustellen. Als sich Alice Pauli 1989 gezwungen sieht, diesen Standort zu verlassen, bemüht sich Soulages zusammen mit Olivier Pauli, sie davon zu überzeugen, sich in zeitgenössischeren Räumlichkeiten im Flon-Quartier niederzulassen. Am 4. Mai 1990 wird die neue Galerie mit Soulages erster Einzelausstellung in der Schweiz eröffnet Dieses aufsehenerregende Ereignis ist nicht nur in kunstkritischer Hinsicht, sondern auch auf kommerzieller Ebene ein Erfolg, da die 20 ausgestellten Werke schnell Käufer finden. Alice Pauli veranstaltet in den Jahren 2000, 2012 und 2019–2020 drei weitere Einzelausstellungen des französischen Künstlers.

Wie seine Mutter war Olivier Pauli von Soulages’ Malerei fasziniert: «[…] Ihr Werk weckt den Blick ebenso sehr, wie es ihn in Frage stellt. Es gibt dieses Schwarz, ein Schwarz, das Leben in sich trägt, das es nicht gäbe, wäre es nicht angefüllt mit all den Farben, die ihm vorausgingen und es belebten. Sie lassen sich noch unter seine Zwischenräume gleiten, wie das Gitter der vergangenen Zeit und Zeichen einer lauernden Erinnerung, die erst erfunden und gebildet werden muss. Ich sage mir dann, dass die mit dem Maler Soulages gepflegte Intimität stets neu zu beginnen ist, so wie Ihre Gemälde, in denen Licht und Dunkel, das Gegenteil und sein Doppelgänger in ihrer Metamorphose, ihrer Synergie und ihrer Dualität miteinander einen Dialog führen» (Brief von Olivier Pauli an Pierre Soulages, 19. Dezember 1989).

Giuseppe Penone

Alice Pauli entdeckt das Werk von Giuseppe Penone (Garessio, Italien 1952) im Jahr 1982 anlässlich der Ausstellung für moderne und zeitgenössische Kunst «documenta 7» in Kassel, Deutschland. Allerdings sucht sie erst 1997 mit dem Künstler Kontakt aufzunehmen, um ihm die Veranstaltung einer Ausstellung in ihrer Galerie vorzuschlagen. Dem Künstler widerstrebt die Idee, mit einer Galeristin zusammenzuarbeiten, deren Arbeit er nicht wirklich kennt, und antwortet ihr nicht.

Als erfahrene Verhandlungsführerin greift Alice Pauli zu einer List, um den Künstler zu erreichen. Sie schlägt dem französischen Filmregisseur und Sammler Claude Berri, einem Freund Penones, der im Mai 1999 ihre Galerie besucht, einen Handel vor. Sie ist bereit, ihm eine Zeichnung des Schweizer Künstlers Louis Soutter zu verkaufen, von der sie sich eigentlich nicht trennen will, und Berri erreicht im Gegenzug, dass Penone sich mit ihr in Verbindung setzt und die Idee einer Zusammenarbeit in Erwägung zieht. Als Beweis ihrer Entschlossenheit und Fähigkeit, sich für die Arbeit des Künstlers einzusetzen, vermittelt Alice Pauli dem Künstler einen Auftrag für die Eingangshalle des UBS-Gebäudes an der Place Saint-François in Lausanne.

Die Zusammenarbeit zwischen Alice Pauli und Penone erstreckt sich über mehr als 20 Jahre, in denen die Galeristin das Werk des Künstlers in 30 Sonder-oder Gruppenausstellungen präsentiert und ihm nicht weniger als fünf Einzelausstellungen ausrichtet. Als Zeichen ihrer engen Verbundenheit mit dem Künstler und dem Musée cantonal des Beaux-Arts Lausanne schenkt sie dem Museum zur Eröffnung des neuen Gebäudes das Hauptstück ihres Skulpturengartens, Luce e ombra [Licht und Schatten] (2011), das die Eingangshalle schmückt, und gibt für die Eröffnungsausstellung ein besonderes Werk in Auftrag, A occhi chiusi [Mit geschlossenen Augen] (2018), das augenblicklich in der zweiten Etage des Sammlungsrundgangs zu sehen ist.