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André Tommasini. Ein Leben als Bildhauer

“Die Bildhauerkunst, wie ich sie ausübe, lässt keine Erschlaffung der Form zu, nirgendwo. Die innere Spannung muss einen Gleichgewichtspunkt erreichen, der keinen Betrug zulässt.”

André Tommasini (1931–2011) kommt in Lausanne als Sohn einer Steinmetzfamilie italienischer Herkunft zur Welt, deren Werkstatt auf dem Friedhof Montoie lag. Er studiert Steinbildhauerei, bevor er sich Anfang der 1950er-Jahre an der École cantonale de dessin et d’art appliqué und im Atelier von Casimir Reymond weiterbildet.

Zunächst arbeitet er im Familienbetrieb mit, den er nach dem Tod seines Vaters 1964 übernimmt, beginnt jedoch zugleich eine künstlerische Laufbahn. Zeitlebens in drei Bereichen aktiv, schafft er in seinem Atelier, führt öffentliche Aufträge aus und fertigt Grabsteine an. Dabei lehnt er es ab, sich zwischen dem Status eines Handwerkers und dem eines Künstlers nach Art der alten Meister zu entscheiden, und erwirbt eine hohe technische Virtuosität in der Steinbearbeitung. Diese Besonderheit verleiht seinem Werk einen fast anachronistischen Charakter in der Plastik der 1970er- und 1980er-Jahre, die weitgehend von der Arbeit mit Metall und dem Experimentieren mit neuen Materialien wie Kunststoff beherrscht wird.

Als Mann der Praxis hat sich Tommasini nur wenig über seine Tätigkeit geäussert. Kritiker lobten häufig seinen sinnliche Umgang mit Volumen, die samtigen Oberflächen und die weichen Übergänge zwischen den Ebenen. Anlässlich seiner ersten Einzelausstellung im Jahr 1975 unternimmt er eine Reflexion über die abstrakte Darstellung des Körpers und schafft Skulpturen, deren zwei Teile so gestaltet sind, dass sie sich nicht zusammenfügen, doch einen Dialog führen, da er zwischen ihnen einen leeren Raum lässt. Tommasini ist ein grosser Bewunderer der Skulpturen von Henry Moore und Constantin Brancusi, lehnt jedoch jeden Symbolismus ab. Sein Werk zeugt vor allem von einer formalen Suche nach der Spannung zwischen widersprüchlichen Formen: Organischen und Geometrischen, Fülle und Leere, Beschränkung und Ausdehnung.

André Tommasini arbeitet hauptsächlich in “taille directe”, einer von der klassischen Bildhauerkunst übernommenen Technik, um so zum Wesen der Ausdrucksmöglichkeiten der Materie vorzustossen.
Besonderen Wert legt er auf das Polieren des Steins, um es dem Licht zu ermöglichen, die Arbeit des Bildhauers zu vollenden. Anfang der 1980er-Jahre beginnt seine Zusammenarbeit mit der Fotograf Claude Huber, dessen Aufnahmen diesen Aspekt besonders hervorheben. Damit reiht er sich in eine lange Tradition der Beziehung zwischen den beiden Medien ein, die von Auguste Rodin eröffnet wurde. Wie bei seinem berühmten Vorgänger sind die Fotografien für seine persönliche Dokumentation wie für die Verbreitung seines Werks bestimmt. Seiner Frau Suzanne Tommasini-Wyssbrod überlässt er die Verwaltung und Archivierung seiner Arbeiten.

Fast fünfzig Jahre lang ist Tommasini auf obsessive Weise in einem Atelier an der Ecke Avenue de Cour und Avenue de Montoie tätig. Im Bestreben um ein Ideal der Perfektion weigert er sich, den zwangsläufig mühsamen–Entstehungsprozess in der endgültigen Form sichtbar zu lassen. Seine zahlreichen sorgfältig aufbewahrten und hier zum ersten Mal gezeigten Zeichnungen und eine bedeutende Sammlung von Modellen aus Blei, Zement oder Gips zeugen jedoch von seinen tastenden Versuchen.

Tommasinis Arbeiten im öffentlichen Raum sind ein wesentlicher Teil seines Werks. Sie führen ihn zu Innovationen, was die verwendeten Materialien wie den Dialog mit der umgebenden Architektur betrifft. Von der Ausstattung der Kapellen des Centre funéraire de Montoie über die zahlreichen Interventionen in Schulhäusern bis zur Brunnenskulptur in Épalinges gehören sie zum Alltag der einheimischen Bevölkerung, ohne dass diese sich dessen bewusst ist. Seine Werke, die ein klarer Ausdruck ihrer Zeit sind, sehen sich heute mit den unvermeidlichen Veränderungen des städtischen Raums konfrontiert. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, die Erinnerung an sie wachzuhalten.

Auch wenn Tommasini fest in der Westschweizer Kunstszene seiner Zeit verwurzelt ist, fällt es ihm schwer, deren Entwicklung nach den 1990er-Jahren zu verstehen, sodass er nur wenige Beziehungen zur aufstrebenden Generation unterhält. Nichtsdestoweniger findet sein Beitrag zur Schweizer Plastik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Interesse von anderer Bildhauer wie Valentin
Carron (*1977, Fully). Dieser auf Aneignungen spezialisierte Künstler verfremdet und verändert vergessene oder vernachlässigte Darstellungen der bildenden Kunst und regt zugleich dazu an, einen
neuen, aufmerksamen Blick auf diese Objekte zu werfen. D’après Tommasini (Travertin) (2015) ist eine–die akademische Übung der Kopie zweckentfremdende–Replik aus Kunstharz und bemaltem Polystyrol einer Skulptur aus Travertin, die seit 1987 im Garten der Fondation Gianadda in Martigny steht. Valentin Carron unterläuft hier das Erbe der Vergangenheit und führt zugleich eine kritische Reflexion über die Obsoleszenz seiner eigenen Tätigkeit.

Dieses Projekt hätte nicht verwirklicht werden können ohne die Konsultation des Archivs des Künstlers, das 2023 in der Antenne romande des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK–ISEA) deponiert wurde und hier zu einem Teil erstmals ausgestellt ist.

Ausgewählte Chronologie

1931
André Tommasini wird am 12. Dezember in Lausanne als jüngster Sohn von Amédée (Amadio) Tommasini (1900–1964) und Maria Tommasini-Haering (1898–1980) geboren. Der Enkel italienischer Einwanderer
absolviert von 1946 bis 1949 bei seinem Vater eine Lehre als Steinbildhauer, die es ihm ermöglicht, von Anfang seines Werdegangs an im Familienunternehmen für Grabdenkmäler mitzuarbeiten.

1954
Schliesst seine Ausbildung an der École cantonale de dessin et d’art appliqué ab, wo er den Modellierkurse von Casimir Reymond (1893–1969) besucht. Zwischen den beiden Künstlern beginnt eine lange Freundschaft und eine intensive Arbeitsbeziehung. Reymond beauftragt ihn mit der Anfertigung seines Grabsteins

1956
Nimmt an einer ersten Gruppenausstellung, dem Salon des Jeunes, im Musée cantonal des Beaux-Arts Lausanne (MCBA) teil.

1965
Heiratet Suzanne Wyssbrod, Suzon, am 5. Juni in Lausanne.Nimmt am Salon des Jeunes im MCBA teil.

1966
Erhält die Genehmigung, an der Ecke Avenue de Cour und Avenue de Montoie auf einem Grundstück, das der Société Coopérative d’Habitation des Employés du Rail gehört, ein provisorisches Atelier für Marmorschleiferei und Bildhauerei zu errichten.

1969
Wird vom Staatsrat des Kantons Waadt zum kantonalen
Lehraufsichtsleiter über die Steinmetzlehrlinge für Grabsteine ernannt.

1972
Entwirft die liturgische Ausstattung in Stein für die Kapellen des Centre funéraire de Montoie (1969–1972) und die Wandskulptur L’Arbre de vie, welche die beiden Stockwerke des Zentrums verbindet. Wird als Gewinner des vom Fonds des arts plastiques der Stadt Lausanne organisierten Wettbewerbs in das Netzwerk der Wettbewerbe und Aufträge für den öffentlichen Raum aufgenommen.

1975
Erste Einzelausstellung in der Galerie Numaga in Auvernier, wo er eine Reihe zweiteiliger Skulpturen zeigt, die das Thema des Körpers und des Paars erkunden. Bei dieser Gelegenheit erwirbt das MCBA Dogonto (1974). Francine Simonin, mit der ihn eine enge Freundschaft verbindet, präsentiert gleichzeitig ihre druckgrafischen Arbeiten.

1976
Nimmt an der zweiten Biennale de l’art Suisse im MCBA teil. Gewinnt den ersten Preis in einem von der Stadtverwaltung Épalinges ausgelobten Wettbewerb. Entwirft eine monumentale Brunnenskulptur aus Corten-Stahl, die im folgenden Jahr aufgestellt wird.

1977
Gewinnt den ersten Preis für eine monumentale Brunnenskulptur in Beton für die Place du Marché in Renens. Die Figur wird 1978 aufgestellt, doch 2021 nach verschiedenen Umgestaltungen des Marktplatzes und aufgrund des schlechten Zustands des Brunnens wieder entfernt.

1978
Fertigt eine monumentale Skulptur in bemaltem Corten-Stahl für die Gemeinde Romanel an.

1980
Fertigt eine Skulptur in rotem Granit New Rubin für das Centre hospitalier universitaire (CHUV) in Lausanne an.

1982
Zweite Einzelausstellung in der Galerie de May in Lausanne, für die er 30 Skulpturen in Marmor anfertigt.

1983
Fertigt eine Skulptur in CortenStahl für das Collège de la Planta in Chavannes und den Brunnen Face à face in Granit New Rubin in der Rue de l’Ale in Lausanne an. Reist mit Suzon nach England und lernt den Bildhauer Henry Moore (1898–1986) kennen, dessen Arbeit er bewundert.

1984
Nimmt an der Gruppenausstellung Format im MCBA teil. Fertigt eine Skulptur in Granit New Rubin für den neuen Geschäftssitz der Firma Fides in der Avenue de Rumine 37 in Lausanne an.

1986
Führt zwei Aufträge für Wandkompositionen aus: in Carrara-Marmor und Juparana-Granit für den Geschäftssitz von Philip Morris in Lausanne sowie in Cristallina-Marmor und InoxStahl für die Eingangshalle des Hotels Agora in Lausanne.

1987
Einzelausstellung in der Fondation Pierre Gianadda in Martigny. Die Skulptur Expansion II(1984), welche die kantonale Kulturkommission 1987 für das MCBA erwirbt, wird anlässlich dieser Ausstellung zum ersten Mal gezeigt. Claude Huber, mit der er viele Jahre zusammenarbeitet, fertigt die Fotografien seiner Werke für den Ausstellungskatalog an.

1989
Präsentiert eine Einzelausstellung in der Galerie Jade in Colmar.

1991
Nimmt an drei Gruppenausstellungen teil: Sculpture suisse en plein air 1960–1991 in der Fondation Gianadda; eine Schau in Meyrin; Swiss Art 1991: Celebrating 700 Years of the Confederation in Washington (DC). Fertigt eine Skulptur in Carrara-Marmor für die Compagnie vaudoise d’électricité in Morges an. Verringert im Alter von 60 Jahren nach und nach seine Teilnahme an Wettbewerben und die Produktion von Monumentalskulpturen. Erleidet im folgenden Jahr einen Herzinfarkt, der ihn dazu zwingt, seine Aktivitäten noch mehr einzuschränken.

1993
Nimmt an der 5. Triennale de la sculpture contemporaine Bex & Arts teil.

2002
Organisiert eine Ausstellung seiner Skulpturen mit Fotografien von Claude Huber in der Galerie der Clinique de La Source in Lausanne.

2009
Stellt seine Tätigkeit als Marmorbildhauer endgültig ein, kündigt den Mietvertrag für sein Atelier in Montoie und organisiert dessen Demontage. Fertigt jedoch weiterhin Zeichnungen und Collagen an.

2011
Stirbt am 13. September in Lausanne.

2013
Suzanne Tommasini-Wyssbrod veranstaltet eine posthume Ausstellung in der Ferrari Art Gallery in Vevey. Als Mitarbeiterin von André Tommasini, seit sie sich kennen, setzt Suzon die systematische Archivierung und Betreuung des Werks ihres Manns fort.

2023
Nach dem Tod von Suzanne Tommasini-Wyssbrod im Jahr 2022 erhält das MCBA eine Schenkung von 34 Skulpturen, Zeichnungen und Modellen von André Tommasini.