Saalführer
Esther Shalev-Gerz. White Out – Between Telling and Listening
5.3.2024 – 4.8.2024
Espace Focus
Mittels so unterschiedlicher Medien wie Installation, Fotografie, Inter- ventionen im öffentlichen Raum und Video befasst sich Esther Shalev-Gerz (geb. 1948 in Vilnius, lebt und arbeitet in Paris) seit mehr als dreissig Jahren mit der Konstruktion persönlicher oder kollektiver Erinnerungen. Ihre Neudeutung der Geschichte ist fest in der Gegenwart ihrer Hauptpersonen verankert: Die meisten ihrer Werke entste- hen im Dialog mit Menschen, ob diese nun an einem besonderen Ort leben oder Zeugen eines bestimmten Ereignisses sind. Die Vergangenheit wird also stets durch die Präsenz der Personen betrachtet, die sich an sie erinnern oder mit deren Relikten arbeiten. Ihre meist in einem Plan fixe, einer festen Einstellung, gefilmten Gesprächspartner:innen beantworten Fragen, erzählen, sind im Augenblick vor dem Erzählen oder in jenem des Zuhörens festgehalten – dem Anhören der Worte der anderen oder ihrer eigenen Aussagen, die aufgrund der durch das Filmdispositiv bewirkten Distanz ebenfalls zu «anderen» geworden sind. Das gesamte Werk von Esther Shalev-Gerz lässt sich so mit einer Arbeit über die Frage des Porträts vergleichen. Durch verschiedene Erzählungen im Intervall zwischen Erzählen und Zuhören sowie dank der Vorrichtungen ihrer Installationen schafft Esther Shalev-Gerz neue Räume, um Fragen der Erinnerung, des Gedächtnisses, des Zeugnisses und des Verhältnisses zur Geschichte zu erörtern.
Die Installation White Out – Between Telling and Listening, die 2012 anlässlich der Esther Shalev-Gerz gewidmeten Retrospektive für die Sammlung des MCBA erworben wurde, schuf die Künstlerin auf Einladung des Historiska Museet in Stockholm. Als Esther Shalev-Gerz feststellte, dass es in der Sprache der Samen das Wort «Krieg» nicht gibt und Schweden seit 200 Jahren an keinem Krieg nicht mehr beteiligt war, begann sie in den Archiven beider Kulturen nach einer möglichen Verbindung zwischen diesen beiden Fakten zu suchen und in einem weiteren Sinn die Frage zu stellen, was Kulturerbe, Sprachen, Völker und Landschaften gemeinsam haben könnten.
White Out besteht aus zwei einander zugewandten Plans-fixes-Videos, die Åsa Simma, eine in Stockholm lebende Frau samischer Herkunft, zeigen. Das eine wurde in der Hauptstadt, das andere in Karesuando, der nordschwedischen Heimat der Samin, gedreht. Im ersten Video reagiert Åsa Simma auf Zitate, in denen Themen wie Natur, Krieg, die Beziehung zwischen den Geschlechtern oder die Lage der Frauen und Kinder in der schwedischen und der samischen Kultur zur Sprache kommen. Im zweiten hört sie ihren eigenen Worten zu. Der Kontrast zwischen den beiden «Ich» ist frappant: auf der einen Seite die lebhafte Städterin, die mit ausdrucksstarken Bewegungen ihrer Hände und Arme ihre Geschichte erzählt, auf der anderen das ruhige, zurückhaltende Gesicht der Person, die (sich) zuhört. Die Installation teilt das Ich in ein aussagendes und ein empfangendes Subjekt. Das Dazwischen, auf das der Titel anspielt, ist der zwischen den beiden zeitgenössischen Identitäten kontinuierlich durchquerte Raum, das ständige Oszillieren von einer Aussenposition zur anderen.
An der Wand werden einerseits die Zitate, die als Grundlage für die Diskussion zwischen der Künstlerin und Åsa Simma dienen und aus unterschiedlichen samischen und schwedischen Quellen – historischen Archiven, Reiseliteratur oder Zeitschriften – stammen, andererseits Fotografien gezeigt, auf denen grosse Lagerregale voller Gegenstände zu erahnen sind. Dabei geht es um die 22 Millionen Objekte, welche die Sammlung des Historiska Museet in Stockholm bilden, Zeugen der offiziellen Landesgeschichte, aus der die samische Kultur weitgehend ausgeschlossen wurde.
Die Künstlerin erläutert: «Mein Forschungsgebiet ist die Konstruktion von Erinnerung. Mein Ziel ist es, die normierten Erwartungen an Erinnerungen und Geschichtsschreibung in Frage zu stellen und zu stören, indem ich die verschiedenen Formen der offiziellen Geschichte, einschliesslich Anthropologie, Ethnologie und Museologie, ins Wanken bringe. Meine Arbeit verwendet bestehende historische Darstellungen, zum Beispiel Text- und Bilddokumentationen, welche die Erinnerung unterstützen. Doch ich präsentiere absichtlich Materialien aus unterschiedlichen Zeiten und Orten, da diese Dinge synchron, in der Zeit, und ahistorisch, ausserhalb der Zeit, existieren können – wie in einem Hypersystem mit austauschbaren Verbindungen, stets in der Gegenwart, selbst wenn die Geschichte in der Gegenwart abwesend zu sein scheint.»