Saalführer
Sarah Margnetti. Supportive Structures
(Manor Kunstpreis Waadt 2022)

Beschreibung

Als Virtuosin der Trompe-l’œil-Technik hat Sarah Margnetti einen Malstil entwickelt, der optische Täuschungen und abstrakte Formen kombiniert. Diese Motive, die sie in monumentalen Wand- bildern und gelegentlich auch auf Leinwand gestaltet, stellen Fragmente von Körpern dar, deren Funktion manchmal abgewandelt (ein Ohr wird Körper, ein Körper Gehirn usw.) oder vervielfältig wird.
Sie erscheinen oder lösen sich auf in Architektur- oder Einrichtungs- elementen aus der Welt des Theaters (Vorhänge, Balustraden, Sessel usw.) und in einem Spiel zwischen Innen und Aussen, Traum und Wirklichkeit. Unter den Sinnesorganen ist das Ohr ein wiederkehrendes Motiv: Es verschwindet in den Astlöchern eines Trompe-l’œil-Dekors, verwandelt sich in eine Künstlerpalette oder nimmt den Platz der Augen ein. Das Werk der Künstlerin scheint so dem Hören mehr Wert beizumessen als dem Sprechen oder Sehen und spielt variant- enreich mit den traditionellen Motiven der Kunstgeschichte, insbesondere mit dem Motiv des weiblichen Körpers.
In ihrer Einzelausstellung im Espace Projet zeigt Sarah Margnetti eine Auswahl von eigens für diesen Anlass geschaffenen Werken und in situ angefertigte Wandmalereien, die Hauptelemente ihres Schaffens aufgreifen, weiterführen oder neu beleuchten. Auf
der Glasfassade entwickelt die Künstlerin das Motiv des Vorhangs, eines Objekts, das wie das Glas Innen und Aussen trennt und zugleich verbindet. Zwar behindert der Vorhang die Sicht, doch erlaubt er, das, was sich hinter ihm befindet, zu riechen, zu hören und sogar zu berühren, während das Glas visuell verbindet, was es physisch trennt. Sarah Margnettis gesamte Arbeit beschäftigt sich mit der Durchlässigkeit, dem Übergang, dem Dazwischen, ob es nun um die Architektur und ihre Dekorationen (Vorhänge, Backsteinmauer, Holzlöcher) geht oder um den Körper und seine Sinnesorgane (Nase, Mund, Ohr). Körper und Architektur treffen aufeinander und werden eins – ein gemalter Holzknoten nimmt die Form eines Ohrs an, ein Ohr wird zum Kapitell einer Säule, aus einer Säule wachsen Arme, während die Adern eines gemalten Marmors an Haut erinnern.

Auf diesem Interesse an der Verbindung von Körper und Architektur gründet ein Motiv, das im visuellen Repertoire der Künstlerin häufig vorkommt: die Figur der Karyatide. Im antiken Griechenland war die Karyatide (wörtlich «Frau aus Karyai» nach dem Namen einer Stadt in Lakonien) eine häufig in ein langes Gewand gekleidete weibliche Statue, die auf ihrem Kopf ein Gebälk trägt und so an bestimmten Gebäuden eine Säule oder einen Pfeiler ersetzt. Durch die Aneignung dieser Figur hinterfragt Sarah Margnetti die historische Verknüpfung von weiblichem Körper und Architektur und nutzt die Karyatide, um den unsichtbaren Kraftaufwand, den Frauen für die Gewährleistung der Stabilität des wirtschaftlichen und sozialen Gebäudes vollbringen, eine visuelle Form zu geben. Wie Camilla Paolino in ihrem schönen Essay im Ausstellungskatalog schreibt, «beruht die Funktionalität der Karyatide auf ihrer Fähigkeit, so zu tun, als würde die Leistung, das Gewicht des Systems auf ihrem Kopf zu tragen, keine Anstrengung erfordern, das heisst auf ihrer Fähigkeit, die von ihr vollbrachte Arbeit zu verbergen. Um dieses unergründliche, undenkbare Geheimnis zu bewahren, muss die Karyatide unbeweglich bleiben und schweigen. Spricht sie, beginnt das Gebäude zu wanken. Bewegt sie sich, stürzt es ein. […] Mit diesen Figuren behandelt die Künstlerin auch die Frage, welche Anstrengungen unternommen werden, um die Welt der Kunst und Kultur zu unterstützen, die dank der undankbaren Plackerei von Kohorten unsichtbarer Arbeiterinnen und Arbeiter floriert.»

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Biografie

Sarah Margnetti erwarb einen Bachelor in Visual Arts der École cantonale d’art Lausanne / ECAL (2005–2009) und einen Master in Visual Arts HES-SO, Work.Master der Haute École d’Art et de Design Genf / HEAD (2013-2015). Zudem absolvierte sie eine technische Aus- bildung am Institut Supérieur Van der Kelen-Logelain in Brüssel, einer der ersten Schulen, die auf das Studium der dekorativen Malerei spezialisiert sind. Sie ist Preisträgerin des Manor Kunstpreis Waadt (2022) und eines Swiss Art Award (2018). Ihre Arbeiten wurden u.a. im Commun, Genf; CAN, Neuchâtel; La Villa du Parc, Annemasse; Last Tango, Zürich; SALTS, Basel; Stems Gallery, Brüssel präsentiert.