Saalführer Steinlen. Kratzbürste und Samtpfote

22.9.2023 – 18.2.2024
Espace Focus

Théophile-Alexandre Steinlen (1859–1923), der in Lausanne geboren wird, lässt sich 1881 in Montmartre nieder, wo er sich den Künstlern des literarischen Kabaretts Le Chat Noir anschliesst und zum Hauptzeichner ihrer Zeitschrift aufsteigt. Seine humorvollen Alltagsszenen zeichnen sich durch ihre direkte Beobachtung, den scharfen Strich, die Kunst des richtigen Bildausschnitts und das gekonnte Erfassen der Bewegung aus. Rasch erobern sie die Kunstzeitschriften und die Pariser Massenpresse und festigen Steinlens Ruf als erster Chronist des Paris der Belle Epoque.

Seit seiner Jugend lehnt sich Steinlen gegen Ungerechtigkeit auf und stellt seine Kunst in den Dienst des sozialen Kampfs: «– Wozu predigen? Man muss handeln. Der Welt geht es nicht so, wie es ihr gehen sollte …» Auf der Strasse beobachtet er das Elend des Volks und die Korruption der Regierenden, die er anprangert, indem er seine bissigsten Zeich- nungen in der libertären Presse publiziert. Als an seinem Lebens-abend der Erste Weltkrieg ausbricht, widmet er dem Schicksal von Zivilisten und Soldaten erschütternde Druckgrafiken.

Steinlen setzt sich nicht nur mit der Tagesaktualität auseinander, sondern ist auch ein Maler des Intimen in der Tradition des Realismus und des Impressionismus. Die Inspiration für seine unabhängige Produktion findet der autodidaktische Druckgrafiker, Maler und Bildhauer in seiner Familie, seinen Modellen und seinen Katzen. Seine Werke spiegeln sein lebhaftes Temperament und seine spontane Bejahung des Lebens in all dessen Erscheinungsformen.

Die Ausstellung zeigt zum ersten Mal eine Auswahl von Werken aus der Schenkung des Zürcher Ehepaars Paul und Tina Stohler, die zu den glühenden Bewunderern des Künstlers zählen, und setzt einen Dialog in Gang zwischen diesem reichen Ensemble und der Sammlung des MCBA.

Steinlen, der vor 100 Jahren starb, verblüfft mit seinem zeichnerischen Talent. Er weckt die Sinne und berührt heute wie damals die Herzen.

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Biografie

1859
Wird am 10. November als ältestes von fünf Kindern in Lausanne geboren. Théophile-Alexandre ist der Sohn eines Postbeamten und einer Hausfrau. Sein Grossvater und sein Onkel väterlicherseits sind Künstler in Vevey und Illustratoren für den Almanach Le Messager boiteux.

1881
Entscheidet sich nach dem Besuch des Klassischen Gymnasiums in Lausanne für eine künstlerische Laufbahn und studiert industrielles Textildesign in Mülhausen im Elsass. Zieht mit 22 Jahren nach Paris und lässt sich in Montmartre nieder.

1884
Schliesst Bekanntschaft mit Künstlern (Willette, Signac, Forain, Toulouse-Lautrec, Vallotton), Schriftstellern (Goudeau, Allais, Renard, Verlaine) und Chansonniers (Bruant) aus dem Umkreis des literarischen Kabaretts Le Chat Noir. Publiziert ab 1884 seine Zeichnungen ohne Worte in der gleichnamigen Zeitschrift, zu deren Haupt- zeichnern er rasch aufsteigt.

1885
Aristide Bruant eröffnet sein Kabarett Le Mirliton und bringt eine gleichnamige Zeitschrift heraus, deren erste Seite von Steinlen illustriert wird, welcher mit Jean Caillou zeichnet.

1888
Geburt von Colette, der Tochter Steinlens und seiner Gefährtin Émilie Mey; als Kleinkind ist sie eines seiner Lieblingsmodelle.

1891
Beginnt eine fast zehnjährige Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Gil Blas illustré, an die er monatlich etwa zehn Zeichnungen liefert.

1893
Profiliert sich unter den grossen modernen Plakatkünstlern und zeichnet nun unter dem Pseudonym Petit Pierre für
Le Chambard socialiste, eine anarcho-syndikalistische Wochenzeitung.

1894
Erfolgreiche erste Einzelausstellung in der Galerie La Bodinière, wo er 300 Werke präsentiert.

1897
Steinlen, der Zola und Anatole France kennenlernt sowie Jaurès und Séverine begegnet, arbeitet aktiv an der Illustration der libertären Zeitschrift La Feuille mit.

1898
Am 13. Januar veröffentlicht Zola J’accuse; Steinlen stellt sich auf die Seite der Dreyfus-Anhänger. Macht sich abgesehen von seiner Meisterschaft in der Lithografie mit der Tiefdrucktechnik vertraut, insbesondere mit der Radierung. Die Zeiten sind schwierig, und er leidet an einer schweren Depression. Sein privates Werk gewinnt an Bedeutung.

1900
Engagiert sich als produktiver Illustrator für den Pariser Buchhandel mit Künstlerbüchern und arbeitet mit dem Kunstverleger Édouard Pelletan zusammen (L’Almanach du Bibliophile pour l’année 1900, L’Affaire Crainquebille von Anatole France, Les Soliloques du Pauvre von Jehan Rictus).

1901
Erhält die französische Staatsbürgerschaft. Beginnt seine Zusammenarbeit mit der Protestzeitschrift L’Assiette au beurre, für die er drei Themenhefte gestaltet.

1903
Hatte nach seiner Ankunft in Paris, da er aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht an der École des Beaux-Arts studieren konnte, als Autodidakt in der Nachfolge der Realisten Daumier und Millet und der Impressionisten Manet und Degas zu malen begonnen. Kann anlässlich einer grossen Retrospektive in Paris (über 100 Nummern) ein bedeutendes Ensemble seiner Gemälde zeigen; bei dieser Gelegenheit erwirbt das MCBA zwei Ölgemälde, Fortifs (Befestigungen, 1886) und L’aurore (Die Morgenröte, 1903, derzeit im permanenten Rundgang La Collection ausgestellt).

1904
Nähert sich den Kreisen an, welche die russische Revolution unterstützen.

1905
Stellt im Salon de la Société nationale des beaux-arts zum ersten Mal seine Skulpturen aus.

1906
Erste Aufenthalte in Jouy-le-Moutier (Val-d’Oise), wo er später ein Landhaus erwirbt.

1909
Im Salon d’Automne ist ein ganzer Raum seinem illustrierten Werk gewidmet.

1911
Nach dem Tod seiner Frau Émilie wird sein Haushalt von der Afrikanerin Masséida geführt, die zunächst Modell, dann Haushälterin ist und die er zu einer seiner Erbinnen macht.

1913
Publikation des Catalogue de l’œuvre gravé et lithographié de Steinlen, zusammengestellt von seinem Freund Ernest de Crauzat (745 Nummern).

1914 – 1918
Während des Ersten Weltkriegs stellt der Pazifist Steinlen sein Zeichentalent in den Dienst der Soldaten, der Vertriebenen und der Zivilbevölkerung hinter der Front. Besucht im Mai und Juli 1915 im Rahmen der «Missions artistiques aux armées» die Schlachtfelder der Somme, im August 1916 der Marne und im April 1917 von Châlons-sur-Marne. Fertigt während des gesamten Konflikts zahlreiche Plakate und Druckgrafiken an, sein Kriegswerk.

1923
Leidet am Ende seines Lebens unter zahlreichen depressiven Phasen. Stirbt am 13. Dezember im Alter von 64 Jahren an einem Herzinfarkt.

1970
Das MCBA ist Mitveranstalter einer Steinlen-Retrospektive mit Etappen im Palais des beaux- arts de Charleroi und in der Kunsthalle Basel.

2008
Das MCBA veranstaltet die Retrospektive Steinlen. L’œil de la rue mit einer Etappe im Musée Ixelles in Brüssel.

2023
Das MCBA bewahrt über 1000 Werke von Steinlen. Dieser Bestand, der durch Ankäufe zu Lebzeiten des Künstlers eröffnet wurde, bildet eine der Säulen der Museumssammlung. Er wird 2008 durch den Erwerb der Sammlung Jacques Christophe und 2016 durch die Schenkung von Paul und Tina Stohler erheblich erweitert.

Steinlens Herzensgüte von Louise Hervieu

«Ein Jahr ist vergangen seit jenem grauen, dunstigen Dezembermorgen, an dem es nur Finsternis und keinen Himmel mehr gab, an dem sich das Gesicht der Güte verschleiert
Hervieuhatte wie das Gesicht einer Witwe, weil der grosse, reine Steinlen nicht mehr lebte. […]

Dieser hätte sich geweigert, reich zu sein, solange es so viele Arme gab. Dank seines Ruhms hatte er Fortuna kennengelernt, sich jedoch sehr bemüht, sie nicht festzuhalten. Was für ein schlechter Rechner! Und das ist eine seiner Glorien. Doch beklagenswert war er nie.

Er war ein Musketier mit gut gestutztem klingenförmigem Bart, hatte eine schön geformte, kräftige Taille, heroische Kinderaugen sowie ein wunderbares Herz zum Lieben, eine stolze Seele zum Kämpfen und die Begabung eines Zeichenmeisters.

Wie viel Liebe hat er verschenkt und verdient! Deshalb hielt ihn der Tod für so jung, als er ihn mit 64 Jahren mitnahm. Er besass alle edlen Eigenschaften und den Adel des Berufs. Seine Finesse war so gross, dass ihn ausser seinem Herzen nichts täuschen konnte.

Wer kümmert sich um den gebeugten oder aufständischen Armen? Wer malt die unschuldigen, der Liebessünde schuldigen Mädchen? Die kurze Jugend, die zu früh wie ein hastiger Frühling erblüht und keinen Sommer kennt? Wer nimmt Anteil an der Sorge der Mütter? Wer feiert den Triumph der Verliebten, welche die Welt für sich allein besitzen … solange sie sich lieben?

Steinlen war der Erzähler der Strasse, dieses Lebensflusses, der, von hohen Häusern eingedämmt, ein Gemisch von Treibgut und Hoffnungen mit sich führt. […]

Steinlen war der Spezialist der Blume und der Tiere, des Katzentiers und der Chat Noir.

Seine Zärtlichkeit gegenüber den Schwachen war genauso stark wie sein Hass auf den Unterdrücker, doch er blieb Künstler und nicht nur Rächer. Alles, was er konstruierte, war lebenstauglich: Die Gelenke spielen ihre besondere Rolle, der Aufbau des Körpers, der unsere Organe birgt, wird ebenso respektiert wie alle Anforderungen eines Tiers, das lebt, losstürzen und den Impulsen seines Herzens und den stürmischen Befehlen seiner Leidenschaften nachgeben kann.

Das war der Steinlen des Gil Blas, des Mirliton, der Assiette au Beurre, der Steinlen von «Crainquebille» und «Barabbas», der Steinlen der «Soliloques» und des «Vagabond».

Darf ich diesem Strauss von Hommagen ein paar weitere Gedanken hinzufügen, die dank der Treue meiner Tränen ihre Frische bewahrt haben? Wie oft kam er von Caulaincourt in meine Banlieue, um sich auf einem niedrigen Ammenstuhl an mein Krankenbett zu setzen. […]

Er wollte, dass wir über Blumen sprachen. Ich gab zu, dass ich kaum etwas anderes als Rosen oder Feldblumen kannte. Beim nächsten Besuch kam er mit einem Strauss Pfingstrosen an: «Na, Mam’zelle, machen Sie mal Bekanntschaft mit diesen hier. Ich nahm einen langen Umweg, um sie bei meiner jungen Händlerin zu holen. Dort gibt es die schönsten, denn ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Es sind die Floristinnen, die ihre eigenen Blumen schaffen!»

Oder wir unterhielten uns über Kunst, über Bewunderungen oder Vorlieben. Ich sagte, dass der stärkste und eindrucksvollste von allen, die diese Karriere einschlagen, der Schildermaler ist, der auf der höchsten Sprosse seiner Leiter steht, mit gelocktem Haar und vielen Liedern auf der Zunge! Ihm verdanken wir die unausweichlichen Grund- und Haarstriche: Wein und Feinkost. Butter, Eier und Rahm.

«Es gibt bessere als ihn, es gibt den Automobilmaler!» «Oh Steinlen, erzählen Sie mir von ihm.» – «Man muss ihn sich vorstellen, wie er ruhig und fest dasitzt mit einem in Zinnoberrot oder Kadmium getauchten Pinsel in der Hand. Und das Rad steht vor ihm mit all seinen Speichen wie ein schwarzes Gestirn. Wie Jahwe, der die Welten sich drehen lässt, setzt er das Rad mit einem Schlag seiner Ferse in Bewegung. Es dreht sich schwindelerregend rasch und trifft auf den Pinsel, den der Maler unbeweglich festhält. Und das ist der Ursprung der idealen Malerei, der Stolz des Karosseriebauers und die Bewunderung der Schaulustigen.» – «Oh, Steinlen!» Und ich fiel müde in meine Kissen zurück. […]

Er hatte auch Schweigephasen, in denen ich spürte, dass er sein eigenes Leiden beobachtete, bedrückt und unsicheren Atems. Doch er wollte nicht, dass ich etwas merkte, so sehr schämte er sich für sein Leiden, denn er war es, der schrieb: «Es ist besser zu schweigen und in seinem Loch zu verharren, wenn man Freunden weder Freude noch Trost bringen kann.»

Als ich ihn ein letztes Mal bat: «Unternehmen Sie nicht mehr diese lange Fahrt, Sie sind erschöpft, und ich bin es, die gesund werden und Sie besuchen will», stellte er sich zornig: «Nein! hört sie Euch an! Sie redet wie Vater und Mutter und kann nicht auf eigenen Füssen stehen. So viel steht fest: Ich komme wieder, wenn und wann ich will.»

Doch er kam nicht zurück! Und solange es Menschen gibt, wird infolge Steinlens Tod ein Platz im Herz der Unglücklichen leer bleiben.»

Publication

Steinlen. Coups de griffe et patte de velours

Catherine Lepdor, Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne, 2023, coll. Espace Focus, n° 11, fr., 48 p., 41 ill.

CHF 8.-

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