Guide de visite
Thalassa! Thalassa! L’imaginaire de la mer

Einführung

Die Ausstellung, die sich im Schnittpunkt von Kunst- und Kulturgeschichte bewegt, untersucht unsere Beziehung zum Meer, wie sie in figurativen Werken vom 19. Jahrhundert bis heute in Erscheinung tritt. Mit der Umgestaltung der Küsten, der Entwicklung der Schifffahrt und den Fortschritten in Geologie und Zoologie hat sich der Blick auf das Meer und seine realen oder imaginären Bewohner ständig verändert.

Diesen Wandel begleiteten zahlreiche technische Erfindungen wie Aquarium, Taucherglocke und-anzug oder Unterwasserfahrzeug. All diese Gerätschaften, zu denen Mikroskop, Fotoapparat und Filmkamera hinzukommen, trugen dazu bei, Sichtbares und Unsichtbares neu zu definieren, indem Blickwinkel verändert, Anhaltspunkte verwischt und unbekannte Geschöpfe aufgespürt wurden. Wie gelang es den Kunstschaffenden, die Umwälzungen, die das Wahrnehmungsraster für ein riesiges Territorium zwischen Küste und Tiefsee erneuerten, wiederzugeben oder vorwegzunehmen?

Auf dem als Erzählung angelegten Rundgang entdeckt das Publikum, wie der kollektive Wunsch, das Geheimnis und die Schönheit des Meers zu bewahren, in einer emotionalen und ästhetischen Beziehung zur natürlichen Welt gründet, die in einer Bildergeschichte wiedergegeben wird. Im ersten wie im zweiten Obergeschoss des Museums werden der Reihe nach drei Themenbereiche vorgestellt: Küsten, Tiefen, Abgründe.

Diese Themen, die sich im 19. Jahrhundert entwickelten, um danach dramatisiert, verfremdet oder sogar dekonstruiert zu werden, sind bis in die zeitgenössische Kunst zu erkennen. In einem Moment, da wir uns der Rolle des Menschen bei der Zerstörung der Ökosysteme bewusstwerden, und zu einer Zeit, in der Meeresgrenzen zahlreiche Konflikte verursachen, erweisen sich diese Fragen als brandaktuell.

1. Etage – Raum 1
Küsten

Die Darstellung des Meers hängt vom gewählten Standpunkt ab. Aus der Ferne und von oben betrachtet, erscheint es flach und glatt. Bei geringerer Entfernung und Höhe übernimmt es die Struktur der Bewegung des Wassers. Und aus nächster Nähe löst es sich in Wellen, Kämme oder Tröpfchen auf. Für Kunstschaffende ist das Meer durch das Fehlen seitlicher Begrenzung bestimmt; nichts schliesst es in der Breite ab, ausser die Wahl des Bildausschnitts. In der Tiefe hingegen setzt ihm das Aufeinandertreffen mit Strand und Himmel Grenzen.

An der Wende zum 19. Jahrhundert dokumentieren die Landschaftsmalerinnen und -maler in grossen Panoramen die befestigten Hafenstädte an den äussersten Grenzen der Länder und Reiche. Ihre Bilder zeugen von der uralten Angst vor der offenen See, die es auf Distanz zu halten galt. Doch bald einmal wagen sich romantische Malerinnenn und Maler weiter hinaus, verlassen den Schutz der Häfen und stellen ihre Staffeleien an der Küste auf. In den Bewegungen und Geräuschen des Meers erkennen sie ihre eigene Gemütsverfassung wieder. Um die Mitte des Jahrhunderts legen ihre Kompositionen die Formel einer Meereslandschaft fest, die sich in drei durch die Horizontlinie stabilisierte, parallele Streifen teilt: Strand, Wasser und Himmel.Lange Zeit tauchen Götter und Göttinnen, die Helden Homers und Vergils in der Imagination der Kunstschaffenden auf, wenn sie im Watt unterwegs sind. Ihr Geist wird immer noch von antiken Epen und nordischen Sagen bewegt.

Auf eine realistische Darstellung bedacht, wenden sich die Malerinnen und Maler des modernen Lebens den Aktivitäten des Hafens und den Mühen der «Arbeiter» des Meers zu. Der Badetourismus bietet ebenfalls neue Sujets: die Menschenmassen, die an die Ufer des Mittelmeers und des Atlantiks strömen, um die wohltuende Wirkung der jodhaltigen Luft zu geniessen, sowie der zunächst nur der Elite vorbehaltene, immer populärer werdende Wassersport.

Auszug aus Jules Michelet, La Mer, 1861. Gelesen von Frank Semelet

1. Etage – Raum 2
Tiefen

Mit dem 1869–1870 veröffentlichten Roman Vingt mille lieues sous les mers (Zwanzigtausend Meilen unter Meer) entführt Jules Verne seine Zeit in die Tiefen der See. Diese literarische Erforschung der Senkrechten ist das markanteste Unternehmen einer imaginären Domestizierung der Meereswelt. Der Schriftsteller nimmt die ozeanografischen Kampagnen wie jene der Challenger-Expedition (1872–1876) vorweg, die Unterwasserreliefs kartografieren und das Leben in der Tiefsee erfassen.

Dank Abtragungen und Ausbaggerungen füllen sich private und öffentliche Sammlungen mit «trocken» oder «flüssig» konservierten Proben. Die Glasbehälter bewirken eine Blickumkehr, da sie das Wasser im Schnitt zeigen. Das Gleiche gilt für die Perspektive vor den Aquarien der meeresbiologischen Stationen respektive hinter den Scheiben der Taucherglocken und -anzüge, wenn die Kunstschaffenden voller Entzücken die submarine Flora und Fauna zu skizzieren suchen. Mit Bleistift – und bald mit Foto- apparat – ausgerüstet, erleben sie völlig unbekannte Situationen, in denen sich die Bezugspunkte des in der Renaissance eingeführten perspektivischen Systems auflösen.

In den 1890er-Jahren bekräftigen die Avantgarden unter dem Einfluss des Japonismus den bildnerischen Wert der Flächigkeit. Der Jugendstil ist fest dazu entschlossen, dem Realismus und dem Relief im Kunsthandwerk ein Ende zu setzen. Er fördert die Stilisierung und Geometrisierung der Formen sowie die grossflächige Behandlung der Farben in gleichmässigen Tönen. Das Leben unter Wasser bietet ein völlig neues Repertoire, wovon sich die Ornamentiker für Stoffe, Vasen, Tapeten und Keramikfliesen inspirieren lassen. Alltagsobjekte schmücken sich mit Algen-, Seestern-, Muscheloder Quallenmotiven und nehmen bis in die 1910er-Jahre die Wohnräume in Beschlag.

Auszug aus Jules Verne, Vingt mille lieues sous les mers, 1869–1870. Gelesen von Matthias Urban

1. Etage – Raum 3
Abgründe

Von den 1880er-Jahren an erneuern die symbolistischen Kunstschaffenden das submarine Repertoire mittels des Prismas einer von Angst bestimmten Subjektivität. Dem Materialismus und der positivistischen Rationalität feindlich gesinnt, flüchten sie vor der Moderne in einen von unbekannten Kräften beherrschten Kosmos. Ihre Pinsel verwandeln die bewegte Oberfläche der Ozeane in einen Schauplatz für Turbulenzen und Versuchungen aller Art.

Die dunkelsten Meeresschichten werden mit den erst kurz zuvor von der experimentellen Psychologie entdeckten Tiefen des Unterbewusstseins verglichen. Urkräfte bewegen die Oberfläche der Fluten. Charybdis und Skylla lösen Wirbelstürme und Strudel aus. Ophelia stürzt sich senkrecht in die Wassertiefe. Sirenen bezaubern die Menschen, um sie ins Unbekannte, in den Wahnsinn oder in die Mystik zu locken.

Als Erben der Symbolisten erforschen die Surrealisten ihrerseits die Abgründe der Innerlichkeit. Von ihren Streifzügen bringen sie Sätze, Formen und Objekte mit, deren Rätsel es zu entschlüsseln gilt. Sie vergleichen jedes Stück ihrer wertvollen Beute mit dem vom Kristall eingefangenen Strahlenbündel oder mit dem Geäst versteinerter Korallen.

André Breton und seine Anhänger schaffen die Synthese zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen Objektivität und Subjektivität. Sie sind gleichzeitig Meer und Taucheranzug, Fisch und Angler. Undinen, halb menschliche, halb marine Mischwesen, verkörpern den Traum von der Verschmelzung mit dem Anderen. Die bewegten Bilder der ersten wissenschaftlichen Dokumentationen über Kraken, Seepferdchen oder Quallen fasziniert die Kunst der zwanziger und dreissiger Jahre: Sie bringen Massstäbe und Rhythmen in Verwirrung, setzen sich über Narrative hinweg und eröffnen erotischen Vorstellungswelten neue Perspektiven.

Auszug aus Georges Rodenbach, Les Vies encloses, 1896. Gelesen von David Gobet

2.Etage – Raum 4
Küsten

Trotz der Krisen, welche die figurative Kunst im Laufe des 20. Jahrhunderts durchlebt, beweist sie ihre Unverwüstlichkeit. Sie erfüllt weiterhin die furchterregende und stimulierende Aufgabe, sich in eine Tradition einzufügen, der sie nicht entkommen kann. Stets von neuem hinterfragt sie Stile und Bildformeln sowie das sich erweiternde Spektrum der Ausdrucksmedien (Malerei, Zeichnung, Fotografie, Video oder Installation). In Bezug auf das Meer stellt sich die herausfordernde Frage der Darstellung umso dringlicher, da die ehedem unveränderlichen Küsten seit dem letzten Jahrhundert tiefgreifende Verwandlungen erfahren. War der Strand in der Vergangenheit Schutzwall, sicherer Landeplatz oder Vorposten der Sommerfrische, so ist er heute ein unter Spannung stehendes Territorium, in dem sich in wachsender Zahl ständig neue ökologische, politische, gesellschaftliche und ethische Probleme stellen. Die Idee, dass eine Küste eine natürliche Grenze, ein Hafen des Friedens oder ein vor Zwängen geschützter Raum für Kontemplation und Träumerei sei, erlebt in den aktuellen Vorstellungswelten ihren Untergang.

So kann man anhand der hier ausgestellten Werke beobachten, wie die Beständigkeit künstlerischer Lösungen in Frage gestellt wird. Die Glanzzeit der «Seestücke» ist vorbei. Was ist von Gemälden zu halten, die in vergoldeten Rahmen an den Wänden hängen, um den Schrecken der offenen See in bürgerliche Wohnungen zu bringen? Wer steht heute an den Stränden, um das Meer abzusuchen? Wie eignet man es sich an? Wie lässt es sich kartografieren? Kann man sich immer noch ein ruhiges Bild der Küste machen, wenn an den Ufern, die einst den Stoff für Epen und Sagen der westlichen Kultur lieferten, die Ferngläser von Umweltschützerinnen und Grenzwächtern auf den Horizont gerichtet sind? Und was ist mit den behelfsmässigen Booten der Migrantinnen und Migranten, welche die Strände säumen, an denen einst Amphitrite und Aphrodite in Erscheinung traten?

Auszug aus Alessandro Baricco, Océan mer, 1993. Gelesen von Melanie Bauer

2. Etage – Raum 5
Tiefen

Das Crochet Coral Reef [Gehäkeltes Korallenriff] ist ein Forschungsprojekt von Margaret Wertheim und Christine Wertheim sowie dem Institute For Figuring. An der Schnittstelle zwischen Mathematik, Meeresbiologie, Handwerk und gemeinschaftlicher künstlerischer Praxis reagiert es auf die Krisen des Klimawandels und der Bildung von Plastikmüllkontinenten. Es macht ebenso aufmerksam auf die Schäden, welche die Menschen dem Ökosystem der Erde zufügen, wie auf unsere positive kollektive Handlungskraft.

Durch die Schaffung einer «einheimischen Naturgeschichte» bietet das Crochet Coral Reef «eine materielle imaginäre Welt», die auf Handwerk beruht. Es wertet die Tätigkeit des Häkelns auf, dieser gering geachteten weiblich konnotierten Fertigkeit. Darüber hinaus hat das Projekt eine mathematische Dimension, da die Wellenformen der Meeresorganismen und ihre Umsetzung in Häkelarbeit auf hyperbolischer Geometrie beruhen, die der euklidischen Geometrie neue Räume öffnet.

Bereits haben 25 000 Menschen in aller Welt im Rahmen des Projekts Crochet Coral Reef an der Fertigung von mehr als 50 lokalen «Satellitenriffen» mitgewirkt. Das hier ausgestellte Baden-Baden Satellite Reef [Satellitenriff von Baden-Baden] ist Teil dieses in ständiger Weiterentwicklung befindlichen Archipels. Im Museum Frieder Burda, wo es entstand, setzten rund 4000 Teilnehmerinnen unter der Leitung von Margaret Wertheim und Christine Wertheim mehr als 40 000 gehäkelte Korallen zu riesigen Inseln zusammen.

Es lassen sich zudem Parallelen zwischen biologischer und sozialer Evolution ziehen. Denn durch ihre Teilnahme trägt jede Häklerin, einem winzigen Polypen der lebenden Riffe gleich, zu einem kollektiven Werk bei, das neue Grenzen zwischen dem «Individuellen» und dem «Gemeinschaftlichen» zieht.

Auszug aus Anna Lowenhaupt Tsing, Conversation sur la Plantation, Gespräch mit Donna Haraway, 2019. Gelesen von Agathe Hauser

2. Etage – Raum 6
Abgründe

Der Titel der Ausstellung lässt im Museumsraum einen Schrei erklingen, der 400 v. Chr. von einer bunt zusammengewürfelten Söldnertruppe der griechischen Armee ausgestossen wurde. Nach langem Herumirren in den feindlichen Gebieten des Persischen Reiches erreichten die erschöpften Männer den Pontus Euxinus, das Schwarze Meer. Dort liessen sie ihrer Freude freien Lauf, wie Xenophon in seiner Anabasis berichtet: «Thalassa! Thalassa!» Meer! Meer! Welche Hoffnung oder Verzweiflung erkennen wir in diesem Ausruf?

Tashlikh (Cast Off), die Videoinstallation von Yael Bartana, ist eine verallgemeinerte Neudeutung des Rituals, mit dem sich gläubige Juden am Neujahrstag (Rosh Hashana) ihrer Sünden entledigen. Sie begeben sich gemeinsam ans Meer, schütteln den Saum ihrer Kleidung aus oder werfen Brotstückchen ins Wasser, um symbolisch ihre Verfehlungen abzustreifen. In Tashlikh (Cast Off) weckt ein ununterbrochener Regen von Objekten die Erinnerung an kollektive Dramen: Schiffbrüche, Völkermord an den Armeniern, Eritreakriege, Shoah und Nakba.

Der Soundtrack verstärkt das Gefühl einer Katastrophe. Die Forderung nach Wiedergutmachung weicht einer Ermahnung, unser Gedächtnis kollektiv zu reinigen, eine unabdingbare Voraussetzung für Vergebung, wenn nicht gar für Vergessen. Miriam Cahn organisiert eine frontale Konfrontation mit den Gewaltopfern der patriarchalischen Gesellschaft und einer Welt im Krieg. In ihrer Serie grossformatiger Gemälde, die sie den Menschen widmet, die beim Versuch, Europa zu erreichen, im Meer ertranken, sinken Körper auf Augenhöhe herab und sind einer doppelten Schwerkraft ausgesetzt: jener des Gewichts und jener der Tragödie. Eine Frau und ein Kind werden unaufhaltsam in die Tiefe gezogen. Das Mittelmeer (Mare Nostrum) verwandelt sich in einen Friedhof, in dem nichts von dem übrig ist, was unser Menschentum begründet hat. Für jene, die auf See umkommen, gibt es keine Grabstätte und – als letzte Schmach – keinen Namen.

Auszug aus Victor Hugo, Les Misérables, 1862. Gelesen von Coralie Vollichard